Georg Friedrich Händels Oper „Ariodante“ am Stuttgarter Opernhaus

09.
Mrz.
2017

Kleider machen Leute

Einlaufmusik nennt man das in der Boxerszene. Bei Henry Maske war es einst Vangelis´ „Conquest of Paradise“, bei den Gladiatoren, die da in schillernden Kapuzencapes auf die Bühne der Stuttgarter Oper treten, ist es die Ouvertüre zu Händels Oper „Ariodante“, die das Publikum in Stimmung bringen soll für den folgenden Fight. Und gekämpft wird ja wirklich, auf Leben und Tod. Der Herzog Polinesso begehrt die schöne Königstochter Ginevra, die freilich den Ritter Ariodante liebt, sodass Polinesso mit Hilfe von Ginevras Hofdame Dalinda eine üble Intrige anzettelt, die nicht nur Ariodante in den Selbstmord treibt, sondern auch Ginevras Leben in Gefahr bringt. Am Ende ist Polinesso tot. Dalinda wird glücklich mit Lurcanio, dem Bruder Ariodantes, der wiederum seine Ginevra bekommt. Alles ist gut. Oder doch nicht?
Die Neuinszenierung von Händels „Ariodante“ durch das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito wirft mehr Fragen auf als dass sie Antworten bietet, grundsätzliche Fragen, die über das Stück weit hinausgehen. Nach unserem Selbstbild, den Rollen, die wir spielen und wie wir sie definieren, wobei Kleidung eine entscheidende Rolle spielt – nicht nur weil Polinessos Intrige auf einer Verkleidung beruht. Um zu verstehen, dass Kleider Leute machen, reicht es, sich im Opernfoyer aufmerksam umzusehen.
Nachdem die Protagonisten jedenfalls alle vorgestellt sind, kann das Spiel beginnen, das da heißt: Wie führt man eine Barockoper auf? „Theater im Theater“ nennt man die Methode, bei der die Akteure ihre Produktionsbedingungen reflektieren, und doppelte Böden dieser Art sind ja im sogenannten „performativen“ Schauspiel seit geraumer Zeit schwer in Mode. Nun bietet sich das Genre Barockoper für ein solches Verfahren insofern an, als ihm Künstlichkeit ohnehin eigen ist. Statt lineare Erzählstrukturen und psychologisierende Entwicklung zu bieten, sind ihre Figuren in hohem Maße stilisiert. In den Arien stülpen sie sich die Affekte wie Verkleidungen über, und auch ihre Koloraturenkunststücke haben etwas von einer Show: das Publikum damals wollte unterhalten werden, und da kam es weniger auf stringente Dramaturgie als auf spektakuläre Darbietungen an.
Los geht’s, it´s showtime, heißt demnach das Motto in Stuttgart: lasst uns mal sehen, was geht. Auf Theaterkonventionen pfeifen wir, und so klettert Diana Haller in ihrer Hosenrolle als Ariodante aus dem Orchestergraben auf die Bühne, Ana Durlovski als Ginevra kommt, ein Mikrofon in der Hand, im türkis-weiß gestreiften Kleid von der Seite. Matthew Brook als König trägt eine Fantasieuniform mit Schulterbommeln wie ein afrikanischer Dikator. Alle suchen noch ihre Rolle, schreiten die Bühne ab, probieren vor dem Spiegel Perücken an, um zu sehen, wie sie damit wirken. Es ist ein unverbindliches, offenes Spiel, bei dem auch das hochgefahrene Orchester beteiligt ist, dessen Musiker merkwürdige Pullover und Hemden mit glänzenden Kragen tragen. Doch so unterhaltsam es auch ist, ihnen dabei zuzusehen – den Preis für die Unverbindlichkeit bezahlt zumindest im ersten Akt die Musik. Die musikalische Anlage mit ihrer Abfolge aus Rezitativ und da capo-Arie mag zwar in hohem Maße artifiziell sein – doch Händels Arien stecken voller Empfindsamkeit und Leidenschaft. Und wenn der musikalische Ausdruck derart szenisch zurückgenommen wird, dass zu den Worten „Eure Glut hat mich entflammt“ harmlose Ringelreihen getanzt werden, verpufft die Wirkung.
Besser wird es im zweiten Akt, wenn die Szene kippt und aus dem Spiel allmählich Ernst wird. Spätestens bei Ariodantes großer Arie „Scherza infida“, die Diana Haller als bewegendes Lamento eines enttäuschten Liebenden gestaltet, spürt man jene Dringlichkeit und Authentizität des Ausdrucks, die zuvor der „Als-ob“Haltung zum Opfer gefallen war. Auch Ginevra ist nun merklich mitgenommen. Die Intrige hat geklappt, mit ihrem gestreiften Kleid, das nun in Fetzen verstreut in Eimern liegt, hat Polinesso auch die Identität Ginevras zerstört, die nun ein grau-weißes Sackkleid trägt. Für das Ende der Oper, nach dem Boxkampf zwischen Lurcanio und Polinesso, haben sich Wieler/Morabito noch eine überraschende Volte ausgedacht. Als würde die Zeit zurückgedreht, singen die Akteure den Schlusschor in Kostümen der Barockzeit, wobei sich Ginevra zunächst verweigert: sie, der übel mitgespielt wurde, will nicht mitspielen.
Dazu hat die Regie noch eine weitere Reflexionsebene in Form von Rousseautexten eingezogen, die Polinesso zitiert. Das alles ist zweifellos klug er- und durchdacht, insgesamt sehr komplex und manchmal auch kompliziert, und dass dabei nicht alles aufgeht, ist wahrscheinlich im Sinne der Regie. Man kann diese Inszenierung mit gutem Grund anregend finden, aber auch die atmosphärische Konzentriertheit von Wieler/Morabitos „Alcina“ vorziehen – musikalisch ist der Abend auf erlesenem Niveau, was vor allem an den Sängern liegt. Von ihnen fordert Händel technische Höchstleistungen, die diese bravourös bewältigen. Eine Freude, dabei Diana Hallers Entwicklung zu verfolgen, die vor einigen Jahren noch Nebenrollen sang und nun auf dem Weg zu einer internationalen Karriere ist. Eine derartige Kombination von Farbenreichtum und Koloraturensicherheit ist selten, und auch darstellerisch legt sie beständig zu: dieser Abend ist vor allem ihr Triumph. Großartig auch Josefin Feilers Debut als Dalinda, rund und warm im Timbre und elegant in der Phrasierung, Ana Durlovski bestätigt ihre Qualität als große Tragödin. Eine Entdeckung ist der Countertenor Christophe Dumaux als Polinesso – mit geschlossenen Augen von einer Frauenstimme nicht zu unterscheiden – fabelhaft auch Sebastian Kohlhepp (Lurciano) und Philipp Nicklaus (Odgardo). Das durch ein historisches Continuoensemble verstärkte Staatsorchester leitet Giuliano Carella so sensibel wie zupackend durch die Partitur, klanglich das unter den gegebenen Bedingungen Mögliche herausholend – eine gewisse, den modernen Instrumenten geschuldete Streicherlastigkeit und damit verbundene klangliche Uniformität kann aber auch er nicht kompensieren. Viele Bravos und wenige Buhs für die Regie. (STZN)

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