Die Staatsoper Stuttgart zeigt die „Winterreise“ von Hans Zender

02.
Mrz.
2020

Nabel, Nase, Anus

Dass Tradition, wie es so schön heißt, nicht die Bewahrung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers sein sollte, hätte Hans Zender sicher unterschrieben. Der im letzten Jahr verstorbene Komponist, der auch als Dirigent tätig war, wusste um die Abnutzungserscheinungen, die ein Werk im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erfährt. Abgeschliffen durch den Konzertbetrieb wird, was einst revolutionär war, früher oder später im Kanon der sogenannten Meisterwerke eingefriedet. Gerade dem Kunstlied hat diese Domestizierung ganz besonders zugesetzt. „Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal“, beschrieb Hans Zender die Ausgangssituation für seine 1993 uraufgeführte „komponierte Interpretation“ von Schuberts „Winterreise“. Die hatte an der Staatsoper Stuttgart nun in einer durch Videoprojektionen des niederländischen Künstlers Aernout Mik erweiterten Aufführung Premiere.
Ein Opernhaus kann insofern für das Werk der passende Ort sein, als Zender in der Partitur festgelegt hat, dass sich einige der 25 Musiker im Raum bewegen müssen. Dadurch erhält jede Aufführung eine szenische Komponente, verstärkt noch durch den Einsatz von allerhand Perkussionsinstrumentarium samt einer veritablen Windmaschine, wie sie schon in der Barockoper verwendet wurde. Die Aufsplittung des Klaviersatzes in einen Orchestersatz bildet die Grundlage für die vielfältigen Methoden, mit denen Zender versucht hat, die ursprüngliche Brisanz des Liederzyklus nach Texten von Wilhelm Müller wieder herzustellen. Gleich im Vorspiel zum ersten Lied „Gute Nacht“ wird das Grundthema des Wanderns etabliert: zum gleichmäßigen Klopfen („wie Schritte“) der Trommel treten trockene, durch Schlagen mit dem Bogen gespielte Streicherklänge, die klirrende Winterkälte evozieren. Dann wirft die Klarinette ein Motiv in den Raum, das vom Orchester aufgenommen wird, und allmählich formt sich die Melodie des Liedthemas heraus, „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“, jene berühmten Zeilen, die als Motto der „Winterreise“ gelten können. Und als dann der Tenor Matthias Klink, der sich während des Orchestervorspiels langsam von hinten genähert hat, mit diesen Worten zu singen anhebt, wird jedem sofort klar, dass hier kein üblicher Liederabend zu erwarten ist, sondern eine existenzielle Auseinandersetzung mit jener Verzweiflung ansteht, die ein Mensch angesichts einer als abweisend erfahrenen Welt empfinden kann. Die im letzten Jahr verstorbene Pianistin Dina Ugorskaja schrieb über Schubert: „Die Zeit scheint in dieser Musik manchmal ganz stehen zu bleiben. Der Schmerz, das Unerträgliche, die Abgründe und die Ausweglosigkeit überwältigen uns.“ Genau um diese Ausweglosigkeit kreisen die Lieder der „Winterreise“, denen sich Matthias Klink mit totaler körperlicher Hingabe widmet. Meilenweit entfernt von allem bloßen Schöngesang taucht er er ein in die Psyche des Wanderburschen, lässt mit seiner Stimme die Brüche und Verletzungen spüren, die der Hoffnungslose auf seinem Weg durch die Winterlandschaft erleidet und wird dabei getragen von dem von Stefan Schreiber umsichtig geleiteten Instrumentalensemble.
Das setzt Zenders Intentionen genau in Klang, wobei dessen kompositorische Überschreibung die historische Perspektive von der Romantik gleichermaßen in beide Richtungen ausweitet. Mit dem Einsatz von Akkordeon und Gitarre lässt Zender das Wirtshaus und den Tanzboden als ästhetischen Resonanzraum anklingen, doch daneben tritt kompositorisch Avanciertes. Am eindrücklichsten im letzten Lied, dem „Leiermann“, wo die Musik dem Todeswunsch des Wanderers, seiner physischen Auflösung, mit dem Verlust der metrischen und tonalen Ordnung entspricht – polytonale, clusterartige Klangbänder ziehen dem Protagonisten den Boden unter den Füßen weg. Dabei ist Zenders Werk in seiner stilistischen Vielschichtigkeit autonom: Musik und Text stehen in einer engen Beziehung, und allein die vielfältigen Verflechtungen mitzubekommen, erfordert die volle Aufmerksamkeit des Hörers. Die Etablierung einer zusätzlichen visuellen Ebene ist deshalb ein fragwürdiges Unterfangen. Wenn sie gewagt wird, erfordert sie eine tragfähige ästhetische Idee.
Der niederländische Künstler Aernout Mik, den die Staatsoper mit dern Inszenierung beauftragt hat, beschäftigt sich in seiner Arbeit vor allem mit den Auswirkungen, die das Internet und die sozialen Netzwerke auf das Selbstverständnis des modernen Menschen haben. So zeigt er neben Videosequenzen, die sich am Text festhalten – Schnee, wenn es um den Winter geht, ein Flüchtlingsheim, wenn es im Lied „Die Wetterfahne“ heißt „…sie pfiff den armen Flüchtling aus“ – vor allem Phänomene der Massenkultur: Gelbwestenproteste, Verkehrsstaus, Shopping Malls, alles getreu seiner (schwer belegbaren) Ansicht, es gehe in Zenders Werk um den „Einzelnen in der Masse“. In Müllers Texten jedenfalls geht es vor allem um Einsamkeit und Obdachlosigkeit, ein Thema, das leider für viele auch in unserer Zeit bittere Realität ist. Vielleicht hätte man ja das aufgreifen können, anstatt, wie Mik es gegen Ende der Aufführung tut, den Körper in den Fokus zu nehmen. Dessen Individualität, so Miks These, begänne sich durch das permanente Changieren zwischen realer und virtueller Welt im digitalen Raum aufzulösen, und wohl deshalb nimmt er Matthias Klink am Ende durch Kameras in den Fokus und lässt dessen Haut bis in die kleinste Falte auf die Leinwand projizieren. Das kulminiert im Lied „Die Nebensonnen“, wo man neben Klinks Nasenloch je einen – immerhin anonymen – Nabel und Anus quasi als Ersatzgestirn prangen sieht, um dann in letzteren endoskopisch einzutauchen. Fraglich nur, ob solch tiefe Einblicke auch tiefe Einsichten mit sich bringen. Viele im Publikum scheinen nicht dieser Meinung gewesen zu sein: neben den Ovationen für Matthias Klink musste das Regieteam einen Buhsturm über sich ergehen lassen, wie man ihn in Stuttgart lange nicht erlebt hat.

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