Vieldeutiges Totaltheater

02.
Nov.
2021

„Die Verurteilung des Lukullus“ von Dessau/Brecht an der Staatsoper Stuttgart

Es wäre ja ein durchaus tröstlicher Gedanke: wenn die Assads und Putins dieser Welt, all jene Herrscher und Despoten, die während ihres irdischen Daseins Unglück und Leid über die Menschen gebracht haben, sich wenigstens nach ihrem Ableben dafür zu verantworten hätten. In seinem Radiohörspiel „Das Verhör des Lukullus“ hat Bertolt Brecht 1939, nach dem deutschen Überfall auf Polen, dieses Motiv aufgegriffen. Der römische Feldherr Lukullus muss sich darin postmortal im sogenannten Schattenreich einem Gericht stellen, dessen Schöffen sich aus jenen Toten und Geknechteten rekrutieren, die der ruhmreiche Held im Zusammenhang mit seinen Eroberungszügen auf dem Gewissen hat. Das Volk richtet seine Unterdrücker – ein klassisches Thema der sozialistischen Revolution. Nicht überraschend also, dass Brecht das Stück nach dem Krieg zusammen mit dem Komponisten Paul Dessau zu einer Oper mit dem Titel „Die Verurteilung des Lukullus“ verarbeitet hat.
Die Staatsoper Stuttgart hat dieses Werk, das nach einigen Querelen zu einem der Klassiker der DDR-Operngeschichte avancierte – allein die Regisseurin Ruth Berghaus inszenierte es zwischen 1960 und 1992 viermal an der Berliner Staatsoper Unter den Linden – nun in einer Inszenierung des Berliner Musiktheaterkollektivs „Hauen und Stechen“ neu auf die Bühne gebracht.
Dass der Abend im ausverkauften, nach langer Zeit mit 1400 Besuchern trotz Corona auch wieder voll besetzten Opernhaus vom Publikum am Ende heftig akklamiert wurde, verdankt sich wohl auch dessen Unterhaltungswert. Statt eines moralisierenden Agitprop-Theaters Marke DDR hat die Regie ein an Anspielungen und ästhetischen Verweisen überbordendes, fast revuetheatermäßig anmutendes Spektakel entworfen, das sich auf verschiedenen Ebenen rezipieren lässt. Allein die Ausstattung der Szenen – die Kostümabteilung der Staatsoper muss sehr lange damit beschäftigt gewesen sein – ist ein sinnliches Theatervergnügen ersten Ranges. Großartig etwa die sich räkelnden Mensch-Maden in der dampfenden Unterwelt. Oder der riesige, wandelnde Fisch, der – manchen Veganer dürfte es freuen – quasi als Rache für all die vom Feinschmecker Lukullus zu seinen Lebzeiten vertilgten Tiere sich knabbernd an dessen Bein zu schaffen macht.
Weitere Perspektiven ermöglichen zwei teilweise simultan ablaufende Videoprojektionen. Auch die Trennung von Bühne und Zuschauerraum wird, durchaus im Sinne von Brechts Idee des epischen Theaters, aufgelöst: So flüchtet sich Lukullus von den Strapazen auf der Bühne zwischendurch mal auf ein Bierchen an die Bar im Foyer. Auch historisch blendet die Regie verschiedene Ebenen übereinander: Antike, Stalinismus, DDR, alles ist gleichzeitig präsent. Insgesamt ist das Augenfutter total – man weiß manchmal gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll. Eine Art Totaltheater, bei dem die Grundidee der Regie gleichwohl immer präsent bleibt: die Vieldeutigkeit. Wie die Lebensbilanz des Lukullus, so lautet die Botschaft, sind auch gesellschaftliche Utopien, politische Systeme oder Lebensentwürfe je nach Sichtweise verschieden interpretierbar.
Musikalisch hat diese Vieldeutigkeit ihre Entsprechung in Dessaus Partitur. Es gibt hier kaum ein Genre, das nicht zitiert wird: barocke Arien, Marschmusik, Operette, Filmmusik, fast das komplette Arsenal der Musikgeschichte wird, quasi in Anführungszeichen gesetzt, wieder aufgefahren. Verwirklicht wird es von einem bläser- und perkussionslastigen Orchester, das zwar ohne hohe Streicher auskommt, dafür aber mittels eines auch szenisch präsenten Akkordeonisten (Ulrich Schlumberger), vor allem aber durch den Sound des sogenannten Trautoniums, einer Art Frühform des Synthesizers, einen zeittypischen, distinkten Klang erhält. Der einstige Stuttgarter Kapellmeister Bernhard Kontarsky, ein ausgewiesener Spezialist für Neue Musik, bringt den Facettenreichtum dieser artifiziellen wie sinnlichen Musik mit dem prächtig disponierten Staatsorchester beispielhaft zum Ausdruck. Auch die Sänger entsprechen diesem Niveau. Allen voran der Tenor Gerhard Siegel, der dem erst großspurig auftretenden, dann zunehmend kleinlauter werdenden Lukullus ungeheure Präsenz verleiht, aber auch das restliche Ensemble samt den stark geforderten Opernchören.
Am Ende der Oper schließlich, Lukullus ist zum endgültigen Verbleib im finsteren Hades verurteilt, schwebt ein Gran Hoffnung herein: ein schnuckeliges, kleines Raumschiff senkt sich langsam vom Schnürboden herab, Kinder steigen aus und betrachten sanft das (unter-)irdische Desaster. Wie konnte es nur soweit kommen mit der Menschheit? Werden Sie es besser machen?

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