Bahn frei!

02.
Jan.
2022

Das Staatsorchester Stuttgart beim Neujahrskonzert

Ein zum „Radetzkymarsch“ mitklatschendes Publikum – für den ehemaligen Stuttgarter Opernintendanten Klaus Zehelein wäre das wohl die ästhetische Höchststrafe gewesen, und auch nach dessen Ägide tat man sich mit dem sogenannten Leichten oft etwas schwer an dem Haus, das sich gemeinhin eher dem Aufklärerischen verpflichtet fühlt: 2015 gab es sogar eine Einführungsveranstaltung (!) zum Neujahrskonzert.
Das war in diesem Jahr nicht nötig, schöpfte doch das Programm aus demselben Fundus von Walzern, Polkas und Operettenklassikern wie das berühmte Vorbild, das Neujahrskonzert aus dem Wiener Musikverein. Wobei man sich ja fragen könnte, ob man sich in schweren Zeiten wie diesen überhaupt auf diese Weise unterhalten lassen darf? „Ohne Sorgen“, so der Titel einer Polka von Josef Strauss, dürfte derzeit ja kaum einer sein. Die coronabedingt auf 500 limitierte Zuhörerschaft im Opernhaus freilich schien fest entschlossen, den mauen Zeitläuften an diesem frühen Abend wenigstens musikalisch für einige Zeit zu entfliehen – und dass das so mühelos gelang, lag an dem von Philippe Auguin umsichtig geleiteten, blendend disponierten Staatsorchester.
Das hatte sich unter zwei Kronleuchtern auf der Bühne ausgebreitet und bewies gleich beim ersten Stück, dem Einzugsmarsch aus dem „Zigeunerbaron“, wie gut es auch mit dem Wiener Idiom vertraut ist. Polkas wie der Johann Strausssche „Vergnügungszug“ oder „Bahn frei!“ nahmen, anders als die ICEs der Deutschen Bahn, störungsfrei Fahrt auf. In Operettenarien von Lehár und Johann Strauss bewies sich Charles Sy als tenoraler Charmeur von Format, und welche Facetten sich dem Walzergenre abgewinnen lassen, zeigte neben „Sphärenklänge“ vor allem „Delirien“: Josef Strauss, der Bruder des Walzerkönigs Johann, hatte diese fast wagnerisch anmutenden Fieberträume im Dreivierteltakt für einen Ball der medizinischen Hochschule Wien komponiert, und Philippe Auguin – der einige Jahre in Wien studierte – fand genau den richtigen Tonfall für deren dezente Pathologie.
Ingesamt war dieser tönende Neujahrsauftakt eine einzige große Freude – was sich auch daran zeigte, dass sich das Publikum nach knapp zwei Stunden derart in rhythmisches Klatschen hineinsteigerte, dass es mit „Unter Donner und Blitz“ als Zugabe nicht getan war. Wie in Wien musste es dann noch der „Donauwalzer“ und – die Leute ließen halt keine Ruhe – am Ende eben der „Radetzkymarsch“ sein. Im nächsten Jahr dann gerne wieder.

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