Mord für eine gute Sache?

17.
Jan.
2022

Antonio Vivaldis „Juditha triumphans“ an der Staatsoper Stuttgart

Wie weit darf man gehen, um Unrecht zu verhindern? Würde man, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, etwa einen Diktator wie Assad oder Lukaschenko töten, sofern man die Gelegenheit dazu bekäme? Einmal morden, damit viele andere gerettet werden? Moralisch erscheint die Frage in einigen Fällen klar entscheidbar. Hitlerattentäter wie Stauffenberg werden heute als Helden verehrt, und auch das Guerillakommando, das 1980 den nicaraguanischen Diktator Somoza niederstreckte, hat die Sympathien überwiegend auf seiner Seite.
Allerdings glaubte auch die Rote Armee Fraktion in den 1970er-Jahren moralisch im Recht zu sein, als sie Repräsentanten des von ihr als Unrechtssystem angesehenen Kapitalismus lynchte. Ikonisch wurde dabei das Bild des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, bei dem dieser mit einem Pappschild vor dem Logo der RAF sitzt: einem Pentagramm mit Maschinenpistole.
Auch dieses Motiv nimmt die italienische Regisseurin Silvia Costa neben vielen anderen in ihrer Inszenierung von Vivaldis „Juditha triumphans“ an der Staatsoper Stuttgart wieder auf. In diesem „Geistlich-militärischen Oratorium“ nach einem alttestamentarischen Mythos geht es ebenfalls um einen Mord, mit dem größere Opfer verhindert werden sollen: Die jüdische Witwe Judith zieht ins Lager der ihre Stadt belagernden Assyrer, die im Auftrag Nebukadnezars unterwegs sind, um alle Völker des Nahen Ostens zu unterwerfen. Kraft ihrer Reize wickelt Juditha den feindlichen Feldherrn Holofernes um den Finger und schlägt dem von Wein und Weib Berauschten nächtens den Kopf ab.
Eine Frau tötet einen Mann, einen mächtigen noch dazu, mit dessen Schwert – ein unerhörter, die Geschlechterverhältnisse auf den Kopf stellender Vorgang, der im Verlauf der Kunstgeschichte dieser von Malern wie Caravaggio, Botticelli oder Klimt bildnerisch umgesetzt wurde.
Doch für das Verhältnis zwischen Mann und Frau interessiert sich Silvia Costa in Stuttgart weniger. Sie untersucht vor allem die Ausprägungen und Zuschreibungen von Weiblichkeit im Allgemeinen. Sämtliche Rollen, auch die des Holofernes, sind dabei von Frauen besetzt, was daran liegt, dass Antonio Vivaldi sein Werk mit den Bewohnerinnen des Waisenhauses Ospedale della Pietà aufgeführt hat, wo er als Musiklehrer tätig war.
Zu Beginn sieht man auf der Bühne des Opernhauses ein weißes Zelt, das sich bald als Lazarett herausstellt. Verwundete werden eingeliefert, darunter auch Juditha und deren Magd Abra. Alle sind dabei in identische weiße Uniformen gekleidet, als gehörten sie zu einer Gemeinschaft. Die im Plot angelegte Spannung zwischen Freund und Feind erscheint hier von vornherein aufgelöst, und auch im weiteren Verlauf der Handlung treten die personalen Zuschreibungen zugunsten eines enigmatischen Bilder- und Assoziationstheaters in den Hintergrund. Das wird zum einen getragen von Farbsymbolik. Weiß und Rot stehen für Unschuld, Gewalt, Geburt und religiösen Mythos: Im vielleicht rätselhaftesten Bild der Aufführung sitzen Holofernes und Juditha nach der finalen Gewalttat nebeneinander, Juditha trägt dabei eine Maske mit dem Antlitz´ Holofernes. Dessen Augen weinen Blut.
Doch auch, wenn viel mit Blut hantiert wird, so wirkt die Aufführung insgesamt eher anämisch. Häufig dominiert szenischer Leerlauf. Die barocken da capo-Arien dauern halt mitunter einige Minuten, die von der Regie mit allerlei ritualhaften Handlungen überbrückt werden. Hände und Kleidungsstücke werden in Blut getaucht, Blumen verteilt, Gewehre geweißelt. Man steht und wandelt herum, ordnet sich in Formationen, bis die Arien zu Ende sind.
Die immerhin werden gut gesungen. Vivaldi hat sein Oratorium im barocktypischen Wechsel von Arien und Rezitativen komponiert, dazu einige wenige Chöre. Die musikalische Abwechslung findet vor allem im Orchestergraben statt. Neben den mit Barockbögen agierenden Streichern finden sich dort allein drei Theorben, dazu Barockgitarre, Mandoline, Orgel und Blockflöten und Klarinette. Ein vielfarbiges Ensemble, das Benjamin Bayl gut im Griff hat, der auch die Sängerinnen organisch begleitet, aus denen Diana Haller als Vagaus herausragt. Das derzeit wohl geläufigste Stuttgarter Kehlchen fegt die Koloraturen mit derartigem Aplomb in den Saal, dass auch das coronaregelgemäß auf 500 reduzierte Publikum im Saal immer wieder in kurze Ovationen ausbricht. Stine Marie Fischer (Holofernes), Rachael Wilson (Juditha) und Gaia Petrone (Abra) bestätigen das insgesamt hohe musikalische Niveau.

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