Teodor Currentzis dirigierte das SWR Symphonieorchester mit Werken von Berg und Schostakowitsch

20.
Jan.
2023

Es darf vielleicht als eines der vordringlichsten Verdienste von Teodor Currentzis gelten, dass er seit seinem Amtsantritt als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters den Sinn dafür geschärft hat, dass Musik mehr sein kann – oder mehr sein sollte? – als das Feierabendvergnügen eines gebildeten (oder sich dafür haltenden) Publikums. Bei Currentzis geht es immer um alles: Leben und Kunst bilden für ihn keine getrennten Sphären. Und wer sich einlässt auf die Kunst, sollte dafür brennen. Dafür spricht auch die Programmatik seiner Konzerte. Gern dirigiert er die schweren Brocken, darunter auch musikalische Weltentwürfe von Komponisten wie Mahler, Prokofjew oder Strawinsky; und auch für sein erstes Konzert 2023 standen nun mit Alban Bergs Violinkonzert und Dmitrij Schostakowitschs achter Sinfonie zwei Werke aus der Abteilung Bekenntnismusik auf dem Programm. Obwohl sie historisch nur wenige Jahre trennen – Bergs Werk entstand 1935, das von Schostakowitsch 1943 – gehören sie ästhetisch dennoch verschiedenen Welten an. In Bergs Konzert, gemäß den Prinzipien der Zweiten Wiener Schule zwölftönig komponiert, ist das Hintergrundrauschen der Spätromantik in Form subjektiver Expressivität, die auch mal sinnlich sein darf, noch deutlich wahrzunehmen. Bei Schostakowitsch dagegen ist von Romantik nichts mehr zu spüren: mag die Sinfonie auch der Dur-Moll-Tonalität verhaftet bleiben, so artikuliert sich hier ein in die Moderne geworfenes Individuum in all seiner Verzweiflung. Mit Klängen, die vor allem wahr, aber nicht mehr schön sein wollen.
Für das Berg-Konzert hatte Currentzis die Geigerin Vilde Frang eingeladen – eine Idealbesetzung, denn die norwegische Geigerin kann nicht nur von ihrer Erscheinung her wie eine Projektion jenes Engels gelten, der früh verstorbenen Manon Gropius, dem Alban Berg im Untertitel sein Werk gewidmet hat. Vor allem fügte sich ihr feinnerviges, jeder Nuance nachspürendes Spiel perfekt ein in das kammermusikalisch orientierte Klangbild, mit dem Berg sein Requiem entwarf.
Und wenn am Ende, nach dem versöhnenden Bach-Choral, die Seele des Mädchens in Form eines hohen Tons der Solovioline in himmlische Sphären entschwebte, so holte Currentzis die Hörer nach der Pause mit dem Beginn von Schostakowitschs Achter wieder auf den Boden zurück. Gleich die ersten Töne der tiefen Streicher setzten den Grundton als klingende Ausrufezeichen: hier wird Dringliches verhandelt. Schostakowitsch schrieb seine Achte unter dem Eindruck der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs als schonungslose, nur ab und zu von Inseln der Glücksverheißung unterbrochene Darstellung des Grauens. Die überwältigende Wirkung dieses Werks im Großen verdankte Currentzis seiner akribisch genauen Gestaltung im Kleinen, einer messerscharfen, vom Orchester großartig umgesetzten Charakterisierung jeder Phrase in ihrem Ausdrucksgehalt, die die Hörer im voll besetzen Beethovensaal in permanenter Spannung hielt und am Ende zu Ovationen hinriss.
Und auch wenn, wie der SWR betont, das Programm schon vor Beginn des Ukrainekriegs feststand – wer will, kann diese Aufführung auch als verdecktes politisches Statement des derzeit wegen seiner Russlandbeziehungen stark umstrittenen Currentzis deuten: als Anklage des Kriegs in Zeiten des Kriegs.

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