Begnadeter Erzähler
Bruce Liu spielte in der Stuttgarter Meisterpianistenreihe
Wie klingen Schneeglöckchen? Für Peter Tschaikowski waren – wie für viele romantische Komponisten – derlei Fragen nach synästhetischen Zusammenhängen Inspiration. In seinem Klavierzyklus „Die Jahreszeiten“ hat Tschaikowski die Frühblüher für den vierten Satz „April“ auskomponiert, passend zur Schlichtheit der kleinblättrigen Frühlingsboten als kecken, nicht allzu tiefsinnigen Walzer.
Musik wie diese fordert den Poeten am Klavier: einen Pianisten, der imstande ist, die vom Komponisten imaginierten Bilder, Atmosphären und Düfte wieder schlüssig in Klänge zu transformieren. Der chinesischstämmige, in Kanada aufgewachsene Bruce Liu ist ein solcher Meister der Rückverwandlung und hat bei seinem Recital in der Meisterpianistenreihe der SKS Russ Tschaikowskis 12 Miniaturen in all ihrem Facettenreichtum aufgefächert. Den kontemplativ versonnenen Blick hinaus aus der kaminwarmen Stube im „Januar“, den ornamental ausgeschmückten Gesang der Lerche im „März“ und das irre Karnevalstreiben im „Februar“. Aber auch die Stimmung der bekannten Juni-„Barcarole“, deren ersten Teil Liu ganz zart und nachdenklich spielt – wie eine wehmütige Reminizenz an eine Gondelfahrt, ehe dann im aufgewühlten Mittelteil eine dramatische Begebenheit geschildert wird.
Nicht nur hier erweist sich Bruce Liu als begnadeter Erzähler, dem es kongenial gelingt, Töne zu Geschichten werden zu lassen. Dass dabei pianistische Aspekte mitunter fast in den Hintergrund treten, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Klavierspiel von exzeptioneller technischer Qualität ist: Lius tonliche Kontrolle ist enorm, jeder Ton ist in seiner Bedeutung für das Gesamtgefüge individuell geformt, jede Phrase gestaltet, wobei Liu das rechte Pedal nur äußerst skrupulös verwendet – lieber treibt er die Anschlagsdifferenzierung ins Extrem, als Gefahr zu laufen, dass irgendetwas im Pedalnebel verwischen könnte.
Das gilt auch für Hochvirtuoses wie Alexander Skrjabins Sonate Nr. 4 Fis-Dur op.30, die Liu als Nervenmusik an der Grenze zur Überreizung spielt; mit finsterem Furor und trotz erheblicher Hitzegrade mit einem Quasi-Röntgenblick auf die Strukturen der Partitur. Und auch für Sergej Prokofjews siebte Sonate findet Liu einen adäquaten Zugang. Die Gewalttätigkeit des Allegro inquieto spielt er ebenso radikal aus wie die herbe Poesie des Andante caloroso, und im abschließenden Precipitato-Finale entfesselt er dank einer unerbittlich durchgehaltenen rhythmischen Stringenz eine geradezu sogartige Dramatik.
Das Publikum im Saal, darunter viele Chinesen, quittiert den Auftritt mit Riesenbeifall, denen der sichtlich gerührte Liu drei Zugaben folgen lässt: Chopins luftig hingelegte „Fantaisie-Impromptu“, Schumanns „Von fremden Ländern und Menschen“, und schließlich, als letzten Beweis für Lius schwerelose Technik, Liszts „La Campanella“-Etüde.
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