Glucks „Iphigenie auf Tauris“ an der Staatsoper Stuttgart

29.
Apr.
2019

Dass Gewalt weitere Gewalt gebiert, bestätigen die Nachrichten täglich aufs Neue – die Anschläge in Indonesien sind nur das jüngste Beispiel dafür. In der antiken Sagenwelt ist es die Sippe der Atriden, deren Geschichte Aischylos als eine von Mord und Rache fast bis zur totalen Auslöschung erzählt hat: Für den Kriegserfolg ist König Agamemnon zur Opferung seiner ältesten Tochter Iphigenie bereit, worauf er von seiner Frau Klytemnästra getötet wird, deren Sohn Orest wiederum den Vater rächt. Euripides dann hat das Schlusskapitel des blutigen Dramas neu geschrieben, indem er Orest und die totgeglaubte Iphigenie auf der Insel Tauris zusammenkommen ließ, wo Iphigenie als Priesterin den Eindringling Orest opfern müsste. Doch sie widersetzt sich dem Ritual. Die Spirale der Gewalt wird unterbrochen.
In seiner vorletzten Oper „Iphigenie auf Tauris“ hat Christoph Willibald Gluck die inneren Kämpfe von Iphigenie und Orest, ihre Verzweiflung wie ihre Hoffnung auf geniale Weise in Musik gesetzt. Dabei durchdringen sich beständig Realität und Traum, bricht die Erinnerung in die Gegenwart ein. Die Protagonisten werden von Furien heimgesucht – so wird Orest an das Trauma des Muttermordes erinnert, das ihn fast in den Wahnsinn treibt. Für die Neuinszenierung an der Staatsoper Stuttgart, die bereits vor 13 Jahren an der Pariser Oper Premiere hatte, hat der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski die Bühne durch eine Plexiglaswand in zwei Räume geteilt. Traum und Handlung, Außen- und Innenwelt lassen sich so bildmächtig verschränken, wobei eine Art Seniorenresidenz den Rahmen bildet, in der die schon greise Iphigenie das Geschehen quasi als Flashback nacherlebt. Dass die neun alten Damen, die ihr dabei als stumme Rollen Gesellschaft leisten, persönlich traumatische Erfahrungen von Krieg und Vertreibung haben, lässt sich allerdings nur dem Programmheft entnehmen. Szenisch vermittelt sich das nicht, was dann aber wiederum auch keine Rolle spielt, werden sie doch von der Regie klug eingebunden in ein eminent suggestives Spiel mit Perspektiven.
Dass die Inszenierung am Ende derart bejubelt wurde, lag allerdings auch an der großartigen musikalischen Umsetzung. Wann hat man das Staatsorchester schon einmal derart farbenreich gestaltend und nuancenreich phrasierend gehört wie hier? Stefano Montanari am Pult arbeitet die dramatische Wucht dieser Partitur ebenso heraus wie ihre Feinheiten, und auch die kleine Sängerriege genügt allerhöchsten Ansprüchen: allen voran Amanda Majeski, als Iphigenie eine veritable Tragödin mit einem Sopran aus Stahl und Seide. Jarrett Ott (Orest), Elmar Gilbertsson (Pylades) und Gezim Myshketa (Thoas) stehen ihr nicht nach. Dass letzterer in der Proszeniumsloge effektvoll gemeuchelt wurde – ebenso geschenkt wie die überflüssigen Videoeinspielungen im letzten Akt. Insgesamt vielleicht die stärkste Produktion der aktuellen Spielzeit.

Südkurier

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