Märchenland ist abgebrannt

07.
Feb.
2022

Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ an der Staatsoper Stuttgart

Es steht schlecht um den deutschen Wald. 227 000 Hektar, so der „Deutsche Waldbericht 2021“, eine Fläche größer als das Saarland, sind praktisch tot und müssen aufgeforstet werden, jede fünfte Fichte ist abgestorben. Dass sich das Symbol der deutschen Romantik in einem derart beklagenswerten Zustand befindet liegt vor allem am Klimawandel, an steigenden Temperaturen und ausbleibendem Regen – wobei sich, schaut man nicht allzu kritisch hin, ja nach wie vor Regionen finden lassen, in denen das Gehölz so gesund und stolz anmutet wie in vorindustriellen Zeiten.
Auch in Axel Ranischs Inszenierung von Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ an der Staatsoper Stuttgart scheinen Welt und Wald zumindest zu Beginn noch in Ordnung. Satt und rund tönen die Hörner in der Ouvertüre, so strahlend wie das Grün der Nadelbäume in der animierten Waldszene, die als projizierte Totale den Bühnenraum füllt. Doch dann schwenkt die imaginäre Kamera nach links, und ganz allmählich gerät das Idyll vom heilen Forst ins Wanken. Erst sind es zwei herumliegende Blechfässer, die für Irritiation sorgen, ein Hirsch und ein Wildschwein scheinen vor irgendwas zu fliehen. Dann schweben plötzlich merkwürdige weiße Teile durch die Luft, die man zunächst für eine Art Flugsamen halten könnte, sich dann aber als Asche entpuppen: der Wald, so wird langsam klar, ist am (Ver-)Brennen.
Nun ist Humperdincks Oper sowieso nur äußerlich betrachtet ein harmloses Märchen mit gutem Ausgang, das als familientaugliches Wohlfühlstück auch von kleineren Häusern gerne in der Vorweihnachtszeit gegeben wird. Was sich in der von den Gebrüdern Grimm verfassten und von Humperdincks Schwester Adelheid Wette zum Libretto verarbeiteten Geschichte tiefenpsychologisch herauslesen lässt zwischen Kindesmissbrauch, Kannibalismus und Erlösungsfantasien haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Regisseure gezeigt. Und auch Axel Ranisch, der sich am Stuttgarter Haus bereits für eine sehr erfolgreiche Inszenierung von Prokofjevs „Die Liebe zu drei Orangen“ verantwortlich zeigte, nimmt die existenziellen Aspekte des Plots ernst – wobei ihm das Kunststück gelingt, Märchen und Sozialkritik, Fantasie und Schock derart sensibel auszutarieren, dass die Inszenierung gleichermaßen für Erwachsene wie Kinder taugen kann.
Raffiniert, wie dabei immer wieder kleine Irritationen die Aufmerksamkeit wach halten. Wenn etwa im ersten Akt der Vater von der Arbeit nach Hause kommt, und, bevor er die zwischen schwarzen Baumstümpfen platzierte Hütte betritt, heimlich ein rotes Kleidungsstück versteckt: ist der Besenbinder, so fragt man sich, in Wirklichkeit auch bei dem Konzern angestellt, dessen in rote, (offenbar an die Serie „Squid Games“ angelehnte) Overalls gewandete Häscher umherirrende Kinder einfangen, die dann in der Fabrik zu Süßigkeiten verarbeitet werden? Wer zieht denn da im Hintergrund die Fäden? Wer ist verantwortlich für die Schäden an der Natur? Und was hat die rot bepelzte Lady, die zu „Ein Männlein steht im Walde“ an die Kinder Naschwerk verteilt, damit zu tun?
Fragen, die – das darf man verraten – bis zum Ende beantwortet werden. Und dass es bis dahin nicht eine Sekunde langweilig wird, liegt nicht nur an den ästhetisch durchkomponierten Bildern und der klugen Personenführung, sondern auch an der exzellenten musikalischen Umsetzung.
Alle Rollen sind ideal besetzt: zuallererst die der beiden Protagonisten Hänsel (Ida Ränzlöv) und Gretel (Josefin Feiler), die ungemein lebendig agieren und singen, aber auch Catriona Smith (Mutter), Shigeo Ishino (Vater) und vor allem Rosie Aldridge (Hexe) liefern pointierte Rollenporträts.
Und was die Russin Alevtina Ioffe als aus dem Staatsorchester holt, ist schlichtweg sensationell. Bekannterweise wagnert es in Humperdincks Musik beträchtlich – der Komponist nannte sein Werk in Anspielung an Wagners „Parsifal“ ein „Kinderstubenweihfestspiel“. Dessen Einflüsse in ihrer klangsatten Opulenz derart differenziert auszuspielen und dabei dennoch den volksliedhaft-naiven Elementen genügend Raum zu geben, gelingt der zum ersten Mal in Stuttgart engagierten Gastdirigentin vorbildlich.
Und so ist diese Stuttgarter Neuinszenierung insgesamt ein großer Wurf, am Ende heftig beklatscht vom Premierenpublikum. Oper für die ganze Familie: das ist ja auch mal was. (Südkurier Konstanz)

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