Beiträge der Kategorie ‘E-Musik’

Die Wiener Symphoniker unter Philippe Jordan

29.
Nov.
2018

Das nennt man eine Karriere. Am Ulmer Stadttheater hatte Philippe Jordan Mitte der 90er Jahre seine Kapellmeisterlaufbahn begonnen. Seit 2014 ist der 44-Jährige Chefdirigent der Wiener Symphoniker, und es ist mittlerweile fast leichter aufzuzählen, welche großen Orchester er noch nicht dirigiert hat. 2020 wird er Musikdirektor der Wiener Staatsoper.
Dass das alles nicht von ungefähr kommt, zeigte der Schweizer nun beim Meisterkonzert im Beethovensaal, bei dem zunächst Brahms´ Violinkonzert auf dem Programm stand. Schon nach wenigen Takten war klar: hier spielt ein Spitzenorchester. Dieses edle Timbre, dieser Klang, der in seiner kraftvollen Kompaktheit an einen Athleten erinnert, in jeder Faser definiert, ohne überflüssiges Fett. Jeder Einsatz war da auf dem Punkt, dazu kamen jene ansatzlosen Crescendi, mit denen vor allem amerikanische Topklangkörper verblüffen. Beste Voraussetzungen also für ein Premiumkonzerterlebnis, zumal auch der dänische Geiger Nikolaj Szeps-Znaider zu den ersten seines Fachs zählt. Technisch kann Znaider alles. Sein Ton ist von schlanker Süße, fast immateriell in den hohen Lagen und dezent sonor in der Tiefe, und auch das Zusammenspiel mit dem Orchester gelang tadellos. Von der ein wenig unsauberen Stimmung seiner Geige im ersten Satz ließ sich Znaider ebensowenig aus dem Konzept bringen wie von seinem knappen Sakko und so genoss man sozusagen einen Drei-Sterne-Brahms: Erlesen tonschön, mit Schwung und Struktur in den Ecksätzen und einem herrlich ausgesungenen Adagio. Bachs „Ich ruf Zu Dir, Herr Jesu Christ“ gab´s als Zugabe.
Vermissen konnte man allenfalls eine etwas persönlichere interpretatorische Haltung, die über gediegene Richtigkeit hinausging, und das galt in noch stärkerem Maße für Dvoráks berühmte Sinfonie „Aus der Neuen Welt“. Auch hier hatte Jordan alles bewunderswert unter Kontrolle. Beeindruckend die Stringenz in der motivischen Entwicklungen, die butterweich hingelegten Pianissimi, die fabelhaften Bläsersoli. Aber auch berührend? Eher nicht. (STZN)

Pinchas Zukerman und die Rotterdamer Philharmoniker

25.
Okt.
2018

Himmlischer Gesang

Sieht man auch eher selten beim Meisterkonzert, dass junge Menschen an der Kasse Schlange stehen, um an günstige (Studenten)karten zu kommen. Aber an diesem Abend war ja auch einer der Größten unter den Geigern angekündigt, der hierzulande obendrein selten zu hören ist: Pinchas Zukerman.
Für sein Konzert mit den Rotterdamer Philharmonikern nun hatte der 70-Jährige mit dem ersten Violinkonzert von Max Bruch eines der beliebtesten Schlachtrösser des Repertoires mitgebracht. Eingestimmt darauf wurde man von dem Auftaktwerk: Ernest Blochs saisonal vorgreifendes „Hiver-Printemps“ (Winter-Frühling), das im gut gefüllten Saal eine Art vorfrühlingshafte Berauschung evozierte, durchaus passend, um sich danach vorbehaltlos dem Gefühlsaufwallungen des Bruch-Konzerts ausliefern zu können. Das ist für den Solisten, abgesehen von den technischen Finessen der Ecksätze, insofern eine Herausforderung, als er sich vor großen Gefühlen nicht fürchten, aber gleichwohl vor Rührseligkeiten hüten sollte. Zukerman nun brachte in seinem formidablen Spiel alles zusammen. Im ersten Satz ein von der vibrierenden Grundspannung des Orchesters getragenes, rhapsodisch-kantables Ausspielen von staunenswerter technischer Perfektion. Zum Luftanhalten der Übergang zum Adagio, das Zukerman mit abgeklärter Kontemplation und Zartheit als großen, himmlischen Gesang spielte und dabei seiner Stradivari Töne entlockte, die kaum mehr von dieser Welt schienen. Der Applaus nach dem ebenfalls bravourös hingelegten Finale war entsprechend.
Dass das von Lahav Shani geleitete Orchester – er übernahm in diesem Jahr den Posten des Chefdirigenten von Yannick Nézet-Séguin – mittlerweile in die Topliga zu zählen ist, bewies es nach der Pause mit einer elektrisierenden Interpretation von Brahms vierter Sinfonie. Bis in die kleinste Phrase durchgeformt und emotional aufgeladen atmete das Werk einen fast berliozschen Furor, mit einer triumphal aufgetürmten Passacaglia als Finale. Ein starker Auftakt für die Meisterkonzertreihe. (STZN)

 

Der Klavierabend von Kirill Gerstein

15.
Okt.
2018

Fest der Farben

Mit einem Paukenschlag startete die neue Saison der Meisterpianistenreihe der SKS Russ. Kirill Gerstein ist in den USA längst ein Star, wird hierzulande aber noch nicht so richtig wahrgenommen. Das könnte – und sollte – sich ändern. Denn Gerstein bewies im leider nur schwach besuchten Beethovensaal, dass er nicht nur der dünn besetzten Liga der Supervirtuosen angehört, sondern auch künstlerisch außergewöhnliche Qualitäten besitzt. Sein Programm, weit entfernt vom Mainstream, barg dabei auf subtile Art politische Implikationen. Zunächst unterzog Gerstein den Aspekt des Heldischen mit Liszts siebter, „Eroica“ betitelter Etude aus den „12 Etudes d´execution transcendante“ und Beethovens „Eroica-Variationen“ op. 35 einer musikalischen Betrachtung. Dem folgte Janaceks Sonate „1.X.1905“, die den gewaltsamen Tod eines Aufständischen reflektiert, dessen Totenfeier samt Trauermarsch dann in Liszts „Les Funérailles“ zu hören war. Debussys „Les soirs illuminés par l´ardeur du charbon“ bezieht sich auf das kleine Glück eines Kohlefeuers in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, und auch Ravel hat mit „Le Tombeau de Couperin“ einem im Krieg verlorenen Freund ein Denkmal gesetzt.
Der dramaturgischen Stringenz entsprach Gersteins grandiose pianistische Umsetzung, wobei er auch in hochvirtuosen Passagen jeden Anflug bloßer Tastenzirzensik vermied: Gerstein kann zulangen, sofern es, wie in Liszts Etuden, gefordert ist. Aber seine Klasse zeigt sich nachdrücklicher in der klanglichen Gestaltung. Klar durchstrukturiert bei Beethoven, berührend in Janaceks fahl-depressiven Lamentotönen, offenbarte er bei Debussy und vor allem bei Ravel das ganze Klangspektrum eines Steinway. Ein Fest der Farben und klanglichen Texturen, gipfelnd in einer rauschhaft hingelegten Toccata. Das Publikum, merklich begeistert, erklatschte sich drei Zugaben: Debussys Prélude „La fille aux cheveux de lin“, Chopins Walzer As-Dur op. 42 und eine Adaption von Gershwins „I got rhythm“. (STZN)

Das Antrittskonzert von Teodor Currentzis als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters

21.
Sep.
2018

 Nach dem Schlussakkord von Mahlers dritter Sinfonie ist erstmal: Stille. Dem Orchester zugewandt, den Kopf gesenkt, verharrt Teodor Currentzis eine gefühlte halbe Minute regungslos, als wolle er der eigenen Ergriffenheit Raum geben. Ähnliches erlebt man ansonsten eigentlich nur in Kirchen – nach einer bachschen Passion etwa, und dass Currentzis dies gelingt, dass keiner der üblichen vorlauten Claqueure und Bravorufer die Atmosphäre zu zerstören wagt, zeigt, über welches Charisma dieser Mann verfügt. Und welche Macht er über Menschen hat. Nach seinem Signal, dass nun genug ist mit dem Warten, kennt der Jubel jedenfalls keine Grenzen. Zunächst stehen nur einige, am Ende der Ovationsstürme haben sich dann fast alle im ausverkauften Saal erhoben, um dem neuen Chefdirigenten zu huldigen.
Die Erwartungen an Currentzis sind riesig. Das fusionierte SWR Symphonieorchester, seit zwei Spielzeiten ohne Chefdirigent, soll der neue Messias zusammenfügen. Aus dem lange zerstrittenen Haufen eine Einheit formen, sein künstlerisches Potential mobilisieren und das Orchester in die Champions League der Klangkörper führen: davon träumt man beim SWR. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Seit Currentzis´ Verpflichtung ist die Aufmerksamkeit der Musikwelt auf Stuttgart gerichtet wie nie zuvor. Sämtliche Konzerte bisher waren ausverkauft, zwei Gastspiele – ebenfalls bereits ausverkauft – in der Elbphilharmonie sind bereits gebucht. Und das ist erst der Anfang. Vielleicht klappt es ja auch, auf dem Tonträgermarkt bei einem major label unterzukommen – Currentzis ist bei Sony Classical unter Vertrag. Für Attraktivität ist also gesorgt, nocht wichtiger aber: aus den Reihen der Musiker hört man nur Gutes über den Neuen. Einer, der das Orchester fordern und inspirieren würde. Endlich.
Dass Currentzis über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügt ist bekannt, und so passt es, dass er sich für sein Antrittskonzert Mahlers dritte Sinfonie ausgesucht hat, deren erster Satz – insgesamt sind es an die 100 Minuten Spielzeit – mit über 30 Minuten allein so lange ist wie manche komplette Sinfonie.
Musik, in der es um alles geht: in einem groß angelegten, stufenartigen Konzept entwickelt sich die (sinfonische) Welt vom Immateriellen über die erwachende Natur mit ihrer Flora und Fauna über den Menschen zum Engel, bevor sie schließlich in der Entrückung des gut halbstündigen langsamen Finalsatzes in der göttlichen Liebe kulminiert. Eine derart ausgedehnte Formanlage hat Mahler später nie mehr gewagt, auch musikalisch hat er hier heterogenstes Material verwendet: Volkslieder, Bimm-Bamm-Kindermusik, Militärklänge (mit bisweilen „grob“ dreinfahrendem Blech), Tanzmusik. Musik, der man im kommoden Dienstmodus genauso wenig gerecht werden kann wie mit bloßer Schönheitsästhetik. „Im erniedrigten und beleidigten Musikstoff“, so formulierte es Adorno wunderbar poetisch, „schürft Mahler nach unerlaubtem Glück“ – eine Prämisse, ohne die sich Mahlers Werk nicht begreifen lässt.
Das weiß Currentzis, und so lässt er die Marschrhythmen im ersten Satz mit Volldampf aufeinanderprallen, die Klarinetten kirmeskapellengleich kreischen. Auch wenn nicht alles auf dem Punkt ist, so ist es doch technisch bemerkenswert sauber und akkurat gespielt, auch im heiklen zweiten Satz, dessen graziöser Duktus Luftigkeit von der Genauigkeit profitiert, mit der die oft gegeneinanderlaufenden Rhythmen gesetzt werden. Offenbar hatte Currentzis gut geprobt. Doch vielleicht ist das Orchester schon etwas überspielt, denn ab dem vierten Satz lässt die Spannung merklich nach. „Mit geheimnisvollem Ausdruck“ fordert Mahler hier, doch singt Gerhild Romberger Nietzsches Zeilen „O Mensch!“ nicht wie gefordert Pianissimo, auch die Horngruppe agiert zunehmend nervös, sodass das Meditative des Satzes kaum zum Ausdruck kommt. Currentzies Stärke liegt darin, Phrasen aufzuladen, Dramatisches zuzuspitzen, Motive auf die Goldwaage zu legen. Doch dass diese Musizierweise Gefahren birgt, zeigt das Finale der Sinfonie. Dieser gen Himmel gerichtete Liebeshymnus entwickelt sich idealerweise in einem großen, apotheotisch im Paukenwirbel kulminierenden Gesang, bei dem sich eines aus dem anderen ergibt. Currentzies aber gelingt es nicht, organischen Fluss in die Musik zu bringen, große Formbögen aufzubauen. Überphrasiert im Kleinen und überfrachtet mit Ausdruck stockt immer wieder die sinfonische Entwicklung – als schöbe sich das Ego des Dirigenten zwischen Musik und Hörer. So bleibt die Finalsteigerung unvermittelt, der Satz letztlich Stückwerk. Als einen „Flug durch die Wolken, hin zum ewigen Licht“, so hatte Currentzis dessen Bedeutung in seiner Einführung am Dienstagabend im Mozartsaal ausgedrückt. An diesem Abend blieb das eine Vision.

Das Abschlusskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele

22.
Jul.
2018

Nein, abgebrochen werden wie vor zwei Jahren musste das Abschlusskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele in diesem Jahr nicht. Damals hatte eine Bombendrohung einen Großeinsatz der Polizei ausgelöst. Allerdings fiel der mit Spannung erwartete erste Programmpunkt, Brahms´ Doppelkonzert für Violine und Cello, einer Handverletzung der Cellistin Amanda Forsyth zum Opfer – sechs Wochen, so verkündetete Intendant Thomas Wördehoff, sei die Ehefrau von Pinchas Zukerman krankgeschrieben. Was also tun? Die Enttäuschung wäre riesengroß gewesen, wenn Pinchas Zukerman gar nicht gespielt hätte, zumal der Abend als Geburtstagskonzert zu seinen Ehren annonciert wurde – am 16. Juli ist der große Geiger 70 geworden. So setzte man kurzerhand Mozarts Violinkonzert Nr. 5 A-Dur aufs Programm – ein Werk, das nicht nur den den Vorteil einer kleineren Besetzung hat, sondern auch mit überschaubarem Probenaufwand einstudiert werden kann.
Die kurze Vorbereitungszeit merkte man der Aufführung gleichwohl an. Im ersten Satz verhakelten sich Solist und Orchester noch an manchen Phrasen, fanden dann aber im weiteren Verlauf zu einem entspannten, von Seiten Zukermans zunehmend inspiriert gestalteten Dialog. Ein gewisser Widerspruch zwischen der beredten, auf Differenzierung angelegten Gestaltung des Orchesterparts durch Pietari Inkinen und Zukermans vibratosattem, von Legatokultur und edel gerundetem Klang geprägten Spiel blieb gleichwohl bestehen. An Zukermans grandioses Beethovenkonzert vom vergangenen Jahr dachte man da etwas wehmütig zurück – aber da war ja noch die Geburtstagsüberraschung für Zukerman in Form von Camille Saint-Saens „Introduction et Rondo Capriccio“, das Zukermans Ex-Schülerin Viviane Hagner zusammen mit dem Festspielorchester fulminant hinlegte: blitzend virtuos, mit kernigem, in der Höhe leicht geschärftem Klang zeigte die 41-jährige, dass sie zu den herausragenden Geigern ihrer Generation zu zählen ist.
Zum Zuhören hatte Thomas Wördehoff für Zukerman extra ein Sesselchen samt Tisch neben das Orchester gestellt. Der freilich, die Merkwürdigkeit der Szenerie erspürend, zog sich lieber an den Bühnenrand zurück, um nach dem Applaus mit Hagner, Wördehoff und Inkinen auf der Bühne ein Gläschen Champagner zu trinken, nicht ohne zuvor ein paar Dankesworte an Publikum und Veranstalter gerichtet zu haben.
Der künstlerische Höhepunkt des Abends war mit Hagners Auftritt dann auch erreicht, denn mit Gustav Mahlers erster Sinfonie hatte sich Inkinen nach der Pause ein Werk vorgenommen, das die Grenzen eines Projektorchester wie das der Schlossfestspiele aufzeigte. Auch wenn das Festspielorchester an vielen Pulten exquisit besetzt ist, fehlte es doch an klanglicher Geschlossenheit, vor allem aber blieb interpretatorisch (zu) viel im Vagen. Den statischen, naturlautartigen Klangflächen des Beginns mangelte es nicht nur wegen unsauberer Bläsereinsätze an Aura, den Tanz- und Volksmusikzitaten im zweiten und dritten Satz an Doppelbödigkeit und dem Finale an apokalyptischer Wucht – und das, obwohl Inkinen seine Kompetenz, was den Aufbau von Phrasen und dramaturgischen Bögen anbelangt, durchaus vermittelte. Für Mahler war es dennoch zu wenig.

Simon Bode und Igor Levit mit Schuberts „Die schöne Müllerin“ in Ludwigsburg

12.
Jul.
2018

Liedgesang an der Grenze „Und der Himmel da oben, wie ist er so weit“ – mit diesen Worten endet Schuberts Liedzyklus „Die schöne Müllerin“. Der Müllerbursche hat im Bach nicht nur sein Leben hingegeben, sondern auch Frieden gefunden, und dieses Ende mit Schuberts traurig-tröstlicher Musik zählt wohl zum Berührendsten, was es in der Kunst gibt. Damit ist eigentlich auch alles gesagt. Nun hatte der Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele Thomas Wördehoff (wir berichteten darüber in der gestrigen Ausgabe) für diese Saison die Idee, bei einigen Konzerten zeitgenössische Werke mit „Ins Ungewisse“ bezeichnet dem Programm anzufügen – was in diesem Falle eine besondere Herausforderung darstellte. Dem Tenor Simon Bode und dem Pianisten Igor Levit ist es bei ihrem denkwürdigen Liederabend im Ludwigsburger Ordenssaal gleichwohl gelungen, mit Wolfgang Rihms „Hochrot“ ein Lied zu finden, das die Atmosphäre von Schuberts Zyklus nicht nur schlüssig aufgenommen, sondern dem Thema der vergeblichen Liebe eine weitere Facette zugefügt hat. „Du innig Roth/Bis an den Tod/Soll meine Lieb Dir gleichen/Soll nimmer bleichen/Bis an den Tod/Du glühende Roth/Soll sie Dir gleichen“ – diese Zeilen von Karoline von Günderrode hat Wolfgang Rihm in eine reduzierte, expressive Musik gegossen, die Bode und Levit mit derselben verzehrenden Intensität interpretierten wie die Lieder zuvor.
Wenn die meisten Liedsänger, was Körperausdruck anbelangt, bestrebt sind, eine gewisse Distanz wahren und Ausdruck primär durch vokale Mittel zu erreichen, so nutzt Simon Bode dazu das ganze Potential seines Körpers. Jedes der Lieder wird so zu einer Art Minidrama. Schon im ersten, „Das Wandern“, wippt Bode mit den Füßen, wiegt sich im Rhythmus des Baches, dessen Rauschen Igor Levit mit der größten denkbaren Emphase in Klänge setzt. In „Ungeduld“, wo der Müllerbursche seine Liebesbekundung am liebsten in die ganze Welt hinausposaunen würde, lässt Bode seine Augen rollen und seinen hell timbrierten, lyrischen Tenor fast kippen. In „Die böse Farbe“, wo die Zuversicht des Müllers in blanke Verzweiflung umschlägt, steigert er sich, getragen von Levits rasenden Akkordrepetitionen, in einen blanken Furor. Das alles ist sicher an der Grenze dessen, was ein Liederabend an Gestaltungsmöglichkeiten bietet, einigen dürfte es in seiner fast opernhaften Extremheit nicht gefallen. Auf der anderen Seite: hat der verblendete Charakter des Müllerburschen, seine neurotische Liebe wie seine latente Todessehnsucht nicht auch etwas Extremes? Spricht Schuberts Musik nicht von Liebe, Sehnsucht und Tod in einer Radikalität, die für uns Alltagstemperierte etwas Bestürzendes hat? Und sollte Kunst nicht gelegentlich auch was riskieren, gerade bei einer von Ritualisierung bedrohten Gattung wie dem Lied? Unbeteiligt dürfte dieser Abend jedenfalls keinen gelassen haben.

„Ins Ungewisse“

11.
Jul.
2018

Welch tolles Stück, denkt man beim Hören von Salvatore Sciarrinos “Andante” aus den “Sei Capricci” für Violine solo, das Carolin Widmann im Ludwigsburger Ordenssaal spielt. Auf sinnliche Weise werden darin die Übergänge zwischen Geräusch und Geigenklang ausgelotet, eine auratische, fast meditative Musik. Carolin Widmann spielt sie am Ende der ersten Hälfte ihres Konzerts mit dem Auryn Quartett und Alexander Lonquich im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele – allerdings steht es nicht auf dem Programm. Denn der Intendant Thomas Wördehoff hat in dieser Saison ein Experiment gewagt. Bei acht ausgewählten Konzerten spielen die Musiker zusätzlich zum annoncierten Programm ein oder mehrere zeitgenössische Stücke, die im Programmheft mit “Ins Ungewisse” bezeichnet sind. Wördehoff möchte damit eine festgefahrene Situation aufbrechen. Er habe festgestellt, dass der Umgang mit zeitgenössischer Musik seitens der Zuhörer „nicht locker“ sei. „Bei Stücken oder Komponisten, die sie nicht kennen, werden viele unsicher. Und die häufigste Aussage ist: Ich versteh’ davon nichts.“ Es sei doch seltsam, dass viele meinten, ein sinnliches Medium wie die Musik nur über Kompetenz erfahren zu können und nicht über die eigene Wahrnehmung. Da wolle er ansetzen – am eigenen Hörempfinden.
Dafür hat Wördehoff für jedes dieser Konzerte einen sogenannten Hörpaten eingeladen, mit dem er nach dem Stück über dessen Eindrücke spricht. Keine Spezialisten, sondern Menschen, die sich für Musik interessieren – wobei etwas Prominenz gerade in Ludwigsburg nicht schaden kann, und so waren bisher unter anderem der Koch Vincent Klink, die Leiterin des Marburger Literaturarchivs Sandra Richter und der Dichter Wolf Wondratschek unter den Hörpaten. Deren Kommentare waren denn auch höchst individuell und offenbarten mindestens so viel über die Persönlichkeit der Hörpaten wie über die gehörten Werke. Einige Aussagen provozierten auch Gegenreaktionen von seiten des Publikums, und dabei zeigte sich ein Widerspruch, der als charakteristisch für die Situation zeitgenössischer E-Musik ist. Ein Konzertbesucher, der sich Wördehoff gegenüber begeistert über das Geigenstück Sciarrinos geäußert hatte, wurde von ihm gefragt, ob er auch ins Konzert gekommen wäre, wenn Werke von Sciarrino auf dem Programm gestanden hätten. Seine Antwort: Wahrscheinlich nicht.
Das ist paradox. Es gibt heutzutage offenbar neue Musik, die gefällt. Doch das Publikum bekommt sie nicht zu hören, denn wenn unbekannte Werke auf dem Programm steht, geht es gar nicht erst hin – und das ist nicht nur in Ludwigsburg so. Man könnte diese Situation als Ergebnis einer fortschreitenden Entfremdung zwischen Komponisten und Publikum beschreiben, die dazu geführt hat, dass – eine einmalige Situation in der Musikgeschichte – Programme klassischer Musik fast ausschließlich aus historischen Werken bestehen. Eingesetzt hat diese Entwicklung schon im 19. Jahrhundert mit der Erweiterung und Auflösung der Tonalität, der viele Hörer nicht folgen konnten oder wollten. Fortgesetzt wurde sie nach dem 2. Weltkrieg, als nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes der jungen Komponistengeneration erst einmal alles suspekt war, was mit bürgerlicher Musikkultur zu tun hatte. Luigi Nonos Verdikt, Melodie sei „eine bourgeoise Angelegenheit“ teilten damals viele, und so entwickelte sich im Kreis von Komponisten wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen eine hochkomplexe Tonkunst, in der Kategorien wie Melodie, Harmonie und (nachvollziehbarer) Rhythmus kaum noch eine Rolle spielten. Ausdruck war verdächtig, und Komponisten wie Hans Werner Henze, für die Kategorien wie Sinnlichkeit und Schönheit wichtig waren, mussten schon mal verbale Prügel seitens ihrer Kollegen einstecken.
Das Publikum spielte bei alldem eine eher untergeordnete Rolle. Viele Komponisten teilten damals die Auffassung, dass das bürgerliche Konzertpublikum ohnehin der falsche Adressat für ihre Werke sei und zogen sich auf Spezialveranstaltungen wie die Darmstädter Ferienkurse oder die Donaueschinger Musiktage zurück, wo man ungestört seine ästhetischen Diskussionen pflegen konnte. Eine Ghettoisierung, die bis heute nicht überwunden ist, obwohl sich die zeitgenössische Musik mittlerweile stilistisch in viele Richtungen geöffnet hat. Musik darf durchaus wieder sinnlich sein, und auch Tonalität ist nicht mehr verpönt. Doch das Trauma sitzt tief.
Interessant ist dabei, dass, so Wördehoff, alle von ihm direkt angesprochenen Musiker begeistert auf seine Initiative reagiert hätten. Alle hätten Werke in petto gehabt, erzählt er. „Als lauerte da ein Überdruck von Stücken, die herauswollten“. Vorbehalte spürte er nur bei Agenturen, von denen einige, so vermutet er, seine Anfrage gar nicht erst an die Musiker weitergeleitet hätten. „Manche Agenten haben Angst vor ihren Künstlern.“ Wördehoff jedenfalls will sein Konzept auch im nächsten Jahr bei den Schlossfestspielen weiterführen. Ob es wieder „Ins Ungewisse“ heißen wird, ist ungewiss. Ob es langfristig dazu beitragen kann, die Vorbehalte gegenüber neuer Musik abzubauen, auch. Doch den Versuch ist es wert.

Die Stuttgarter Philharmoniker unter Dan Ettinger im Beethovensaal

10.
Jun.
2018

Rauschen und Knistern

Wie klingt das Käuzchen? Huuh-hu. Und wie der Frosch? Mit einem Orchester lassen sich Naturszenen ganz gut akustisch nachstellen, was schon die Komponisten des Barock – Antonio Vivaldi etwa – weidlich genutzt haben. Tierstimmen gehören dabei meist in den Zuständigkeitsbereich von Blasinstrumenten, und für Olivier Messiaen bildeten Vogelstimmen gar den Ursprung aller Musik, wobei er in seinen Werken niemals in die Gefahr ihrer bloß illustrativen Verwendung kam. Weniger talentierte Komponisten können dagegen leicht der Versuchung erliegen, mangelndes Können und fehlende Inspiration durch den Einsatz akustischer Versatzstücke zu kompensieren. Das zeigte sich nun beim Konzert der Stuttgarter Philharmoniker unter Dan Ettinger, bei dem vor der Pause das dreisätzige Stück „Water“ für Klavier und Orchester des türkischen Pianisten Fazil Say gespielt wurde, der auch den Solopart übernahm. Hier trafen sich Käuzchen und Frosch zum munteren Stelldichein, umspielt von allerlei Rauschen, Knistern und Gluckern und garniert von eingängigen melodisch-harmonischen Floskeln, die sich in repetitiven Strukturen ihrem vorhersehbaren Ende zubewegten. Töne, die sich wie warmes Öl in die Gehörgänge schmiegen und auch auch als Hintergrundmusik in der Meditationssauna funktionieren würden. Nun muss zeitgenössische Musik ja nicht immer sperrig sein. Aber gleich so billig?
Wild ist das Stück jedenfalls nicht, und mit 48 Jahren dürfte auch Say nicht mehr unbedingt als jung zu bezeichnen sein, weshalb sich das Motto des Konzerts „Junge Wilde“ darauf kaum beziehen lässt. Blieben noch das Eingangsstück, die „Freischütz“-Ouvertüre, bei deren Uraufführung Carl Maria von Weber auch schon 35 war, und Beethoven, der seine siebte Sinfonie mit 41 komponierte. Beherzt immerhin war Dan Ettingers (47) dirigentischer Zugriff, der bei Beethoven das wie entfesselt spielende Orchester mit Volldampf durch die Partitur trieb und am Ende mit Ovationen gefeiert wurde. Ein Wilder, junggeblieben?

Marc-André Hamelin spielte in der Meisterpianistenreihe

04.
Jun.
2018

Ein bisschen leid tun konnten Sie einem schon, die 30 Teilnehmer des letztjährigen Van Cliburn Klavierwettbewerbs. Mussten sie doch als Pflichtstück gleich in der ersten Runde die Toccata on „L’homme armé“ spielen, ein vor Höchstschwierigkeiten strotzendes Stück des Mitjurors Marc-André Hamelin, das wohl, zumindest in technischer Hinsicht, die Spreu vom Weizen getrennt haben dürfte. Nun hat der Frankokanadier seine Version eines französischen Renaissancelieds als erste Zugabe seines umjubelten Klavierabends im Stuttgarter Beethovensaal mit jener Brillanz und Leichtigkeit gespielt, die man von ihm gewohnt ist. Als wäre Klavierspielen die einfachste Sache der Welt.
Das gilt für die schwerelos hingelegte Sonate C-Dur Hob.XVI:48 von Haydn, die schon das Spektrum an Farben und Anschlagsdifferenzierungen andeutete, das Hamelin dann in den beiden Sonaten von Samuil Feinberg und Claude Debussys erstem Heft der „Images“ entfaltete. Feinbergs hochvirtuose, stark an Skrjabin erinnernde Musik spielte Hamelin als Tanz auf der Rasierklinge – mit unbedingtem Ausdruckswillen sich bis an die Grenzen dessen herantastend, was auf einem Flügel möglich ist. In Debussys „Images“ dann wurde die im Titel anklingende Utopie Realität. Töne und Begriffe transformierten zu Bildern, von glitzernden Wasserflächen in den „Reflets dans l´eau“, einer patinabedeckten barocken Szene in der „Hommage à Rameau“ und schließlich, in „Mouvement“, von der Bewegung selbst.
Dass Hamelin freilich nicht nur ein Meister der konzisen Form ist, sondern auch groß angelegte Sonatensätze überlegen zu gestalten weiß, zeigte er nach der Pause auf überwältigende Weise in Schuberts B-Dur Sonate D960. Ganz ungeschützt, mit fühlendem Herzen ließ sich Hamelin auf die Seelenerkundung ein, die diese Musik bedeutet, spielte mit größter Sensibilität die harmonischen Beleuchtungswechsel aus. Weltenrückt in den ersten beiden Sätzen, von vorsichtigem Elan beseelt im dritten und vierten Satz. Große Kunst.

Das London Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas mit Jan Lisiecki

25.
Mai.
2018

Jeder Ton mit Bedeutung

Jan Lisiecki, so kann man im Programmheft der SKS Russ lesen, sei „ein Pianist, der jeder Note Bedeutung verleiht“. Die New York Times hat dies über den 23-jährigen Kanadier mit polnischen Wurzeln geschrieben, der bereits mit 15 Jahren Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon wurde und seitdem eine beachtliche Karriere hingelegt hat. Zusammen mit dem London Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas spielte er nun beim achten (und letzten) Meisterkonzert der Saison Beethovens drittes Klavierkonzert – und als müsse er seinem Image gerecht werden, spürte man dabei Lisieckis Absicht, jeden Ton mit Bedeutung aufzuladen. Fortissimo lässt er die oktavierten Tonleitern bei seinem ersten Einsatz nach oben rauschen, markant hämmert er das Thema heraus. Wo immer es geht, setzt er auf dynamische Kontrastierungen, und in den Kadenzen legt er mit einem Furor los, als handle es sich nicht um Beethoven, sondern um ein spätromantisches Virtuosenkonzert. Dass er hernach Rachmaninovs Prelude cis-Moll op.3 No.2 als Zugabe spielt ist wohl kein Zufall, denn in dieser Welt fühlt sich der Jungstar merklich zuhause. Und auch wenn es als Vorrecht der Jugend gelten kann, zu übertreiben – stilistisch bleibt sein pointiertes, auf den Moment fixiertes Beethovenspiel fragwürdig.
Dass musikalische Spannung auch anders zu vermitteln ist, nämlich durch eine an der musikalischen Struktur orientierte, großbögig disponierte Dramaturgie, vermittelte Michael Tilson Thomas nach der Pause bei den letzten beiden Sinfonien von Jean Sibelius. Mit welcher Ruhe er die Anlage der grandiosen, einsätzigen Siebten entfaltete, dabei den Klang als konstituierendes Element immer wieder neu formte, das können derzeit nur wenige Dirigenten. Das London Symphony Orchestra war ihm dabei ein flexibles, in allen Gruppen formidabel besetzes Instrument, das schon beim Eingangsstück, Berlioz „Le carnaval romain“, präzise wie ein Uhrwerk spielte in dem alle Teile reibungslos ineinandergreifen: so muss ein Spitzenorchester klingen.

Frank Armbruster