Beiträge der Kategorie ‘E-Musik’

Das Stuttgarter Staatsorchester unter Cornelius Meister

07.
Jul.
2019

Für Herz und Hirn

Da wurde es ziemlich eng auf der Bühne des Beethovensaals. Allein acht Hörner und fünf Trompeten verlangt Richard Strauss für seine Sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, dazu eine massive Streicherbesetzung und allerhand Schlagwerk, und so war inmitten des Staatsorchesters gerade noch Platz für seinen – zum Glück recht schmal gebauten – Chefdirigenten Cornelius Meister. Nun kann eine solche Riesenbesetzung leicht massiv klingen. Die Klangbalance auch im Fortissimo zu wahren zählt hier also zu den vornehmlichsten Aufgaben des Dirigenten. Doch selbst wenn es Meister, etwa in der dramatischen Schilderung der Fährnisse, die der Held zu überwinden hat, schon mal dezent krachen ließ – dröhnend oder gar ungeschlacht geriet es nie. Meister, das beweisen auch seine Operndirigate immer wieder aufs Neue, hat ein Gespür für die Austarierung der Orchestergruppen und verfügt auch über die Fähigkeit, an den entsprechenden Stellschrauben zu drehen. So geriet dieses wirkungsmächtige, von Strauss mit allerlei selbstreferentiellen Bezügen gespickte Stück zu einem vertitablen Orchesterfest, nicht zuletzt auch wegen der famosen Konzertmeisterin Elena Graf, die den Solopart im zweiten Satz mit geradezu verzehrender Intensität gestaltete.
Kein Wunder, dass das Orchester am Ende dieses letzten Sinfoniekonzerts der Spielzeit gefeiert wurde, hatte doch auch die erste Programmhälfte schon Außergewöhnliches geboten. Begonnen hatte es mit „Vís-szín-tér“ von Márton Illés, einem Auftragswerk der Staatsoper, an der Illés in der aktuellen Konzertsaison „Composer in focus“ ist. In den drei Sätzen treibt der ungarische Komponist, der unter anderem bei Wolfgang Rihm studiert hat, die klangliche Ausdifferenzierung des Orchestersatzes auf die Spitze. Jenseits von Kategorien wie Melodie oder Harmonik entwickeln sich die Klänge quasi organisch, wobei der Untertitel „Aquarelle“ auf das Ausfransen und Verschwimmen der Klangflächen hinweist, die der Komponist hier mit größter Subtilität aus den Klangmöglichkeiten Orchesterinstrumenten amalgamiert. Strukturell bietet das Werk zumindest beim ersten Hören kaum Orientierungspunkte – man muss sich, sozusagen im Sinne des Zen, ganz auf das einlassen, was im Hier und Jetzt passiert.
In dieser Hinsicht macht es einem Frank Martin mit seinem Concerto für 7 Blasinstrumente, Pauken, Schlagzeug und Streicherorchester leichter. Das Werk ist eine zeitgenössische Wiederbelebung des barocken Prinzips des Konzertierens, bei dem Soloinstrumente gegenüber einem Orchester ihre virtuosen Fähigkeiten demonstrieren. Musik, die Herz und Hirn gleichermaßen anspricht und die zu hören insofern ein großes Vergnügen war, als sich sowohl Solisten wie Orchester auf Martins rhythmisch dominierte Musik mit spürbarer Begeisterung und technischer Brillanz einließen. Am Ende zählt: das Kollektiv.

STZN

Das Staatsorchester Stuttgart unter Daniele Rustioni mit Elisabeth Brauß

26.
Mai.
2019

Man nehme: einen charismatischen Dirigenten, eine hochbegabte junge Pianistin, ein tipptopp präpariertes Orchester sowie eine schlüssige Programmdramaturgie – und herauskommt ein Sinfoniekonzert, das man in seiner Wirkung als beglückend bezeichnen darf. So geschehen beim 6. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters am Sonntagmorgen im Beethovensaal mit dem Dirigenten Daniele Rustioni und der Pianistin Elisabeth Brauß. Der 36-jährige Rustioni hat seine Qualitäten schon bei Gastdirigaten am Stuttgarter Opernhaus und einem Sinfoniekonzert gezeigt: eine ansteckende Musizierfreude vor allem, verbunden mit eleganter Dirigiertechnik und eminentem Klangempfinden. Mit Jean Sibelius´ zweiter Sinfonie bewies er nun, dass er auch in der Lage ist, einen Spannungsbogen über ein groß angelegtes Werk wie diese populäre Sinfonie des finnischen Nationalkomponisten zu wölben. Deren am Ende mit Ovationen gefeierte Aufführung kann als Musterbeispiel eines von Emphase wie Partiturkenntnis getragenen Musizierens gelten, das weder das heroische Pathos des Werks noch seinen Reichtum an motivischen Entwickungen und klanglichen Texturen unterschlägt.
Begonnen hatte das Konzert mit György Ligetis in all ihren Verästelungen luzide ausgeleuchteten Orchesterstudie „Lontano“, die wiederum die Hörnerven sensibilisierte für Edvard Griegs a-Moll Klavierkonzert mit Elisabeth Brauß als Solistin. Die 24-Jährige gilt als eine der vielversprechendsten jungen Pianistinnen – nicht nur weil sie technisch bereits praktisch alles kann: die manuellen Herausforderungen des melodiensatten, hochromantischen Konzerts bewältigt sie souverän, ja fast lässig – fulminant hingelegt nicht nur die Kadenz. Aber vor allem besitzt sie ein poetisches Empfinden für die lyrischen Zwischentöne von Griegs Musik, ihren folkloristisch geprägten Zauber, die sie mit enormer Klangdelikatesse umsetzt. Das Publikum wollte sie so erst nach einer Zugabe – Robert Schumanns „Von fremden Ländern und Menschen“ – von der Bühne lassen.

 

Das Collegium Vocale Gent mit Philippe Herreweghe in Ludwigsburg

12.
Mai.
2019

Schönheit des Leidens

Das Publikum, so schrieb Claudio Monteverdi 1638 im Vorwort zu seinem achten und letzten Madrigalbuch, habe bei dessen Aufführung geweint, so sehr sei es vom Affekt des Mitleidens bewegt gewesen. Einen derartigen Gesang habe es zuvor noch nie gehört. Und selbst wenn heutige Zeitgenossen vermutlich etwas abgestumpfter sind als die Menschen des Frühbarock, so dürfte das Konzert des Collegium Vocale Gent in derEvangelischen Stadtkirche im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele doch bei einigen Besuchern ähnlich intensive Reaktionen ausgelöst haben. Nein, berührender und ans Herz gehender kann Musik kaum sein als in diesen Madrigalen, anhand derer sich der stilistische Wandel von der Vokalpolyphonie der Renaissance zu einem am Wortausdruckaus orientierten Deklamationsstil beispielhaft ablesen lässt.
Meist handeln die Madrigaltexte von Leidenden, von Göttern und Nymphen, unglücklichen Hirten und vergeblich Liebenden – und was Leid bedeutet, wusste Monteverdi, dessen Frau 1607 starb; nur ein Jahr später folgte ihr die hoch begabte Sängerin Caterina Martinelli, die er in sein Haus aufgenommen hatte, mit erst 17 Jahren ins Grab.
Der überwältigende Eindruck dieses am Ende mit Ovationen im Stehen bejubelten Konzerts verdankte sich vor allem der Qualität von Herreweghes handverlesenem Ensemble, das in seiner klanglichen Differenziertheit vielleicht einzigartig auf der Welt ist. Herreweghe hat es nicht mit typischen „weißen“ Chorstimmen, sondern mit Charakterstimmen besetzt, die auch solistische Aufgaben übernehmen können. Das war an diesem Abend vor allem die Sopranistin Kristen Witmer mit einer hinreißenden Darstellung des „Lamento della Ninfa“: plastisch wie in einer Opernszene wird hier Klage der Nymphe beschrieben, die über einem absteigenden Lamentobass den Liebesgott Amor anruft, weil ihr Geliebter sie verlassen hat und dabei drei Hirten immer tiefer in ihr Leid hineinzieht. Manche Konzerte sind wie ein Geschenk. Dies war eines davon.

 

 

 

 

 

Mit Schostakowitschs 13. Sinfonie wurden die Ludwigsburger Schlossfestspiele eröffnet

10.
Mai.
2019

Hoffnung auf bessere Zeiten

Thomas Wördehoff wäre nicht Thomas Wördehoff, wenn er nicht auch zur Eröffnung seiner letzten Saison als Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele seinem Credo treu geblieben wäre: Musik, davon hat er sein Publikum im Laufe der vergangenen neun Jahre überzeugt, dient nicht (allein) der Unterhaltung und (noch weniger) der Repräsentation, sondern kann uns neben ästhetischem Wohlgefallen Erkenntnisse über uns und unsere Welt vermitteln. Und für wenige Werke gilt dies mehr als für die von Dmitri Schostakowitsch: er, der gesagt hat, dass Kunst nicht der Schönheit, sondern der Wahrheit zu dienen habe, hat mit der 13. Sinfonie „Babi Jar“ nach Gedichten des 2017 verstorbenen Dichters Jewgenj Jewtuschenko eines der eindringlichsten Orchesterwerke der gesamten Literatur geschaffen. Der erste Teil thematisiert den globalen Antisemitismus anlässlich des Massakers von Babi Jar, bei dem die deutsche Wehrmacht im Jahr 1942 innerhalb von 36 Stunden über 33 000 Juden erschossen hat, die anderen vier Sätze beleuchten das (Über-)Leben in der Sowjetunion: die zersetzende Angst der Bevölkerung im Stalinismus, die Schostakowitsch selbst erlitten hat, die Tapferkeit der russischen Frauen, die subversive Kraft des Humors.

Dass das Werk selten aufgeführt wird, hängt auch mit den besetzungstechnischen Anforderungen zusammen: neben einem groß besetzten Orchester braucht man einen stimmstarken Männerchor und einen Basssolisten, der die vokalen Anforderungen des Soloparts zu stemmen weiß – und all dies war bei der Aufführung im Ludwigsburger Forum in idealer Weise gegeben. Die jungen Herren des finnischen Chors Ylioppilaskunnan Laulajat, die das Konzert mit einigen nordischen a cappella-Chorwerken eröffnet hatten, bildeten zusammen mit dem fabelhaften Bass René Pape den vokalen Gegenpart zum beherzt aufspielenden Orchester der Schlossfestspiele. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es Pietari Inkinen gelingt, die Musiker des projektweise arbeitenden Orchesters zu einem Ensemble zusammenzuschweißen. Die drastisch-grellen, an Mahler gemahnenden Zuspitzungen von Schostakowitschs Orchestersatz realisierte das Orchester ebenso schlüssig wie die fragilen Passagen: Beklemmend der Beginn des vierten Satzes „Angst“ mit dem chromatischen Umherirren der Solotuba, entrückt das zarte, von Celesta und Glöckchen bekränzte Ende des Werks, das zumindest Hoffnung macht auf eine bessere Zukunft der Menschheit. Am Ende Ovationen.

 

Das Russian National Orchestra Mit Jérémie Rhorer und Mikhail Pletnev

09.
Apr.
2019

Opulente Tongemälde

 

Wann hat man zum letzten Mal ein Orchester mit einem derart betörend schönen Klang gehört wie das Russian National Orchestra? Ein Klang zum sprichwörtlichen Hineinlegen, substanzreich auf den tiefen Streichern und Blech aufgebaut, süffig und rund in den Mittenlagen und nach oben sanft abgerundet – ziemlich anders als die Brillanz, die man von europäischen Toporchestern gewohnt ist.
Mit Mussorgskys Vorspiel zur Oper „Chowanschtschina“ hatte das Konzert in der Meisterkonzertreihe der SKS Russ begonnen, einem opulent instrumentierten Tongemälde, das Jérémie Rhorer am Pult des Orchesters in dunkelbunten, dezent abgetönten Farben zeichnete. Im folgenden 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninov setzte sich dann der Gründer des Orchesters Mikhail Pletnev höchstselbst ans Klavier – und zwar nicht an einen der allgegenwärtigen Steinwayflügel, sondern an ein Modell SK-EX von Shigeru Kawai, das Pletnev wegen seines weicheren, runderen Klangs bevorzugt. Dabei harmonierten Solist und Orchester nicht nur klanglich, sondern vor allem in der nostalgisch verklärten, aber reflektierten Sicht auf dieses häufig als Virtuosenfutter missdeutete Konzert, das die zu seiner Entstehungszeit schon untergegangene Zeit der Romantik noch einmal in all ihrem morbiden Zauber beschwört. Wer dabei angenommen hatte, dass der seit 1990 vor allem als Dirigent aktive Pletnev nur einen Deut seiner pianistischen Fähigkeiten eingebüßt hätte, sah sich aufs Angenehmste getäuscht: was der äußerlich immer etwas distanziert wirkende Pletnev hier an pianistischer Differenzierungskunst demonstrierte, gehört in die alleroberste Kategorie.
Dass der zurzeit sehr angesagte Jérémie Rhorer beileibe kein bloßer Schönklangdirigent ist, bewies er nach der Pause mit einer fesselnden, in der Stringenz und Konsequenz der eingesetzten orchestralen Mittel nachhaltig beeindruckenden fünften Sinfonie Schostakowitschs. Deren Tschingderassa-Fanfaren im Finale arbeitete er als das heraus, was sie sind: erzwungener Jubel.

 

Das Freiburger Barockorchester mit Mozarts frühen Sinfonien

17.
Feb.
2019

Keine Meisterwerke

Mozart war ein Wunderkind. Ein Satz, der wenig Widerspruch hervorrufen dürfte angesichts der zahlreichen Berichte über dessen unglaubliche Fähigkeiten – selbst wenn man berücksichtigt, dass Mozarts Vater Leopold durchaus geschickt darin war, die Karriere seines Sohnes mittels Legendbildung zu fördern.
Ob Mozart freilich das größte Wunderkind unter allen Komponisten war, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Bei einer 2009 im britischen BBC Music Magazin veröffentlichten Umfrage unter den wichtigsten Musikjournalisten, bei der es um die Frage ging, wer vor seinem 18. Geburtstag die bedeutendsten Werke komponiert hat, landete Mozart nicht einmal unter den Top Ten. Erster war Mendelssohn, gefolgt von Schubert und Korngold.
Mit dem Konzert des Freiburger Barockorchesters im Mozartsaal hat dies nun alles insofern zu tun, als dabei vier der frühen Sinfonien Mozarts auf dem Programm standen, von denen er die erste, op. 16, mit acht Jahren komponiert hatte – eine kaum zu begreifende Leistung. Dennoch kann man sich fragen, ob diese Sinfonien auch aufgeführt würden, wenn sie nicht das Genie Mozart, sondern ein beliebiger anderer Komponist in reifem Alter geschrieben hätte. Denn Meisterwerke sind diese Stücke, anders als Mendelssohns Streichersinfonien oder Korngolds erstes Klaviertrio, trotz manch origineller Einfälle keineswegs, findet man darin doch allzu viele floskelhafte und harmonisch banale Wendungen. Ob man also beim Hören den Wunderkindaspekt ständig im Hinterkopf haben muss, um sie zu angemessen würdigen zu können? Das hellwache, klangliche geschärfte Musizieren des FBO konnte diese Fragen jedenfalls nicht ganz in den Hintergrund drängen, zumal man Mozarts Frühwerken mit Giuseppe Maria Cambinis drittem Flötenkonzert (tonschön gespielt von Daniela Lieb) und Johann Christoph Friedrich Bachs Sinfonia d-Moll offenbar bewusst Werke an die Seite gestellt hatte, die sich qualitativ davon nicht allzusehr abheben sollten. Insgesamt war das, gemessen an anderen Konzerten des FBO, ein eher mediokrer Abend.

Das Auryn Quartett spielte im Mozartsaal

08.
Feb.
2019

Fugato als roter Faden

 

Bis der Tod uns scheidet? Streichquartette wie das legendäre Amadeus Quartett, das 40 Jahre zusammenspielte blieb, bis es sich nach dem Tod des Bratschers auflöste, sind eine Ausnahme. Denn wie in allen festen Beziehungen – und das Quartettspiel ist eine sehr intensive Beziehung – kann es immer Krisen und Schickschalsschläge geben.
Das Auryn Quartett freilich, das nun im Kammermusikzyklus der SKS Russ ein eindrückliches Konzert spielte, dürfte gute Chancen haben, die vom Amadeus Quartett vorgelegte Marke zu übertreffen, denn trotz der mittlerweile 37 Jahre gemeinsamen Musizierens sind bei ihm keinerlei Ermüdungserscheinungen zu bemerken. Zwar spielen die Geiger Matthias Lingenfelder und Jens Oppermann, der Bratschist Stewart Eaton und der Cellist Andreas Arndt, anders als einige der jüngeren Streichquartette, die derzeit Furore machen, nicht im Stehen und auch nicht auswendig. Auch Improvisation und Crossover stehen nicht auf dem Programm. Doch was klassische Streichquartetttugenden anbelangt, bewegte sich dieser Abend auf einem selten zu hörenden Niveau.
Das begann schon mit der Programmdramaturgie: es war das Prinzip des Fugato, das sich wie ein roter Faden durch den Abend zog. Beginnend mit vier Sätzen aus dem Gipfelwerk der Fugenkunst, Bachs „Die Kunst der Fuge“, über das G-Dur Quartett KV 387 Mozarts, das im Finale Tanzweise und Fugenkunst grandios zusammenführt. Dem folgte Mendelssohns kontrapunktisch geprägter Geniestreich, das posthum veröffentliche (und technisch verflixt schwere) Capriccio e-Moll op. 81/3, das nach der Pause von einem weiteren Solitär, Beethovens Quartett cis-Moll op. 131, gekrönt wurde. Böte allein der Luxusklang des auf erlesenen Instrumenten spielenden Auryn Quartetts schon Anlass zum Schwärmen, so gilt das für die gleichzeitig aufs Detail wie die große Form abzielende, ganz auf die Vermittlung musikalischer Essenz konzentrierte Quartettkunst der Auryns noch mehr. Zwei Zugaben: das Andante aus Haydns op. 64/4 und ein Tango von Strawinsky.

Andrea Bocelli in der Hanns-Martin-Schleyerhalle

12.
Jan.
2019

 

Na gut, Liedgesang ist nicht so sein Ding. In Beethovens „Ich liebe Dich“ nuschelt und knödelt sich Andrea Bocelli mit brüchiger Stimme so ein bisschen durch, es geht ihm da wie José Carreras, dessen lyrischer Tenor in fortgeschrittenem Alter ebenfalls nur noch durch gehörigen Kraftaufwand zu tragfähigen Tönen in der Lage war. Das fällt an diesem Abend aber insofern wenig ins Gewicht, als Bocelli beim Rest seines Programms ausreichend Gelegenheit hat, Spitzentöne mit jener tenoralen Grandezza zu stemmen, die das Publikum so liebt. Das galt vor allem für die erste Programmhälfte, in der er, unterstützt vom grundsolide spielenden Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheim und dem Bachchor Stuttgart, Opernklassiker von Verdi, Gounod, Leoncavallo und Puccini singt. Die Duette mit der kubanischen Sopranistin Maria Aleida hinterlassen dabei den stärksten Eindruck – sehr innig „O Soave Fanciulla“ aus Puccinis „La Bohème“, stürmisch die „Nuit d´hymeneé“ aus Gounods „Romeo et Juliette“. Um den fehlenden szenischen Kontext etwas abzufangen, werden dazu auf einer Leinwand im Hintergrund Projektionen gezeigt – Szenen aus Operninszenierungen, aber auch Animationen, wie zur Cabaletta des Manrico „Di quella pira l’orrendo foco“ aus Verdis „La Trovatore“, wo vor einer finsteren Burg bedrohlich die Flammen züngeln.
Jenen, die den Opernplot nicht gut kennen, hilft das nicht wirklich weiter, aber das ist nach der Pause anders, wenn es bei Ausflügen in Folklore, Musical und Weltmusik vor allem darum geht, die Stimmung der Lieder visuell zu unterstützen. So sieht man zum leidenschaftlich geschmetterten „O Sole mio“ Bilder der Amalfiküste mit azurblau schimmerndem Meer und zu Rodrigos „En Aranjuez con tu amor“ Aufnahmen der Alhambra. Ilaria Dello Bidia hat mit „Over the Rainbow“ einen ganz starken Auftritt, und erst gegen Ende der zweiten Hälfte richtet Bocelli dann einige Worte an das Publikum, vor allem um den Auftritt seines Sohns Matteo anzukündigen. Der, so Bocelli, habe ihm gesagt dass er ebenfalls Sänger werden wolle, und so hat der Papa für sein aktuelles Album „Si“ mit ihm „Fall on me“ aufgenommen, ein Song, der das Potential des gut aussehenden Sohnemanns nicht überfordert und am Ende sehr beklatscht wird. Mit „Canto della terra“ einem Bocelliklassiker, biegt der Abend dann auf die Zielgerade ein. Drei Zugaben, darunter auch der Superhit „Time to say Goodbye“. Draußen wartet der Schneegriesel.

Die Academy of St. Martin-in-the-Fields

10.
Jan.
2019

Blasser Auftritt

Am Londoner Trafalgar Square steht die Kirche St. Martin-in-the-Fields, ein freundlich-heller Bau mit einem charakteristischen Turm über der säulengesäumten Vorhalle, der vor allem durch das nach ihm benannte Orchester berühmt wurde. Neville Marriner hatte es 1958 gegründet, und dass sich sein Ruf rasch in alle Welt verbreitete, hatte mit seiner für damalige Verhältnisse revolutionären Interpretation von Barockmusik zu tun: auf modernen Instrumenten, aber mit schlankem Klang und differenzierter Artikulation setzte vor allem seine Spielkultur lange Zeit Maßstäbe.
An das Spiel ohne Dirigent ist das Orchester, das die Konzertmeisterin Iona Brown häufig vom ersten Pult geleitet hat, lange gewöhnt. Und der Geiger Joshua Bell, der das Orchester seit 2011 leitet, hat bei zahlreichen Konzerten bewiesen, dass dies auch bei klassisch-romantischer Musik funktionieren kann. Umso überraschender der zwiespältige Eindruck, den das Konzert der Academy in der Meisterkonzertreihe der SKS Russ nun hinterlassen hat.
Eigentlich kommt der feine Klang eines Kammerorchesters Prokofjews im Haydn-Stil komponierter „Symphonie classique“ entgegen. Wie immer gab Joshua Bell vom ersten Pult aus gelegentliche Impulse, die aber an diesem Abend weder zu homogenem Spiel und schon gar nicht zu stringenten Interpretationen führten. Vom Gestus her musizierte das Orchester wie immer auf der sprichwörtlichen Stuhlkante, mit forschem Zugriff, artikulatorisch manchmal fast überpointiert. Doch unsaubere Einsätze und verschmierte Streicherfigurationen waren nicht zu überhören, auch nicht in Saint-Saens´ drittem Violinkonzert, wo man sich zu Bells dominantem Solospiel einen orchestralen Gegenpart gewünscht hätte, der über bloßes Begleiten hinausgegangen wäre. Insgesamt fehlte es an diesem Abend sowohl an gestalterischer Struktur wie an klanglicher Finesse – auch Barbers berühmtes „Adagio“ und Bizets erster Sinfonie kamen reichlich anämisch daher. Das ist man von diesem Orchester eigentlich nicht gewohnt.

Die Gaechinger Cantorey mit bachschen Adventskantaten

02.
Dez.
2018

Stille Nacht, heilige Nacht? Der Advent als Zeit der Einkehr? Davon ist heute angesichts der merkantilen Totalvereinnahmung der Vorweihnachtszeit – bei der in manchen Supermärkten schon im September Lebkuchenberge aufgestapelt werden – wenig geblieben. Eine Gelegenheit, der ursprünglichen Bedeutung der Adventszeit wieder näherzukommen bot nun das Abonnementkonzert der Bachakademie mit drei der insgesamt vier bachschen Adventskantaten und dem ersten Brandenburgischen Konzert. Über den von Luther zu „Nu kom, der Heyden Heyland“ eingedeutschten Hymnus „Veni redemptor gentium“ hat Bach gleich drei Kantaten komponiert. In BWV 61 verwendet er die erste Strophe als Choralphantasie in einer französischen Ouvertüre, in BWV 36 als fein gewirktes Duett für zwei Frauenstimmen und in BWV 62 als Eingangschor. Dass Hans-Christoph Rademanns Gaechinger Cantorey keinen Vergleich mit den Spitzenensembles der Originalklangszene mehr zu scheuen braucht, ist bekannt. Rhetorischer Fluss und artikulatorische Beweglichkeit zählen zu den vortrefflichen, auch in diesen Kantaten zu bewundernden Eigenschaften von Chor und Orchester, und auch die Solisten entsprachen überwiegend diesem Niveau.Christina Landshamers schlanker Sopran und Henriette Göddes samtiger Alt harmonierten im Duett aus BWV 62 aufs Schönste. Benjamin Bruns erfreute mit einem baritonal grundierten, in der Höhe freien Tenor, und nur Andreas Wolfs koloraturengewandtem Bass würde man noch etwas mehr rhythmische Konsistenz wünschen. Nicht ganz auf dem Niveau der Kantaten gelang das – ohne Dirigent gespielte – brandenburgische Konzert, was zum einen an den gerade im letzten Satz nicht organisch wirkenden Übergängen und Temporelationen lag, zum anderen an den wenig in den Gesamtklang integrierten, intonatorisch unsicheren Hörnern. Überhaupt, der Klang: ab etwa Reihe 10 verliert der sich im für diese Musik viel zu großen Beethovensaal. Ob Rademann dies vielleicht mit seiner manchmal übertrieben wirkenden Gestik zu kompensieren trachtet? (STZN)