Kann ein Roboter Gefühle haben?

04.
Okt.
2024

Das Stuttgarter Kammerorchester experimentiert mit KI

KI ist ja schwer angesagt derzeit. Manche blicken hoffnungsfroh, andere besorgt auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, und auch in der Musik wurden schon allerhand Versuche damit gestartet. Simple Songs und andere Gebrauchsmusiken lassen sich längst via KI erstellen, aber wie ist es in der klassischen Musik? Ergeben sich durch KI-Einsatz möglicherweise neue Perspektiven für das etablierte Konzertformat?

Das Stuttgarter Kammerorchester (SKO) hat dazu nun ein Experiment gewagt. Dazu wurde der Beethovensaal schwer aufgerüstet: drei riesige Leinwände rahmen die Bühne ein, rechts und links stehen sogenannte IKO-Lautsprecher, die den Schall in verschiedene Richtungen abstrahlen, eine ganze Gruppe von Tontechnikern steuert das Ganze von ihren Pulten in der Saalmitte. Der Aufwand ist gigantisch, aber das Programmheft verspricht ja auch ein „immersives audiovisuelles Hörerlebnis“. Zu dem gehört auch „Spot“, ein Roboterhund. Der mechanische, mit Frontscheinwerfer ausgestattete Vierbeiner stakst zu Konzertbeginnt zunächst die Empore des Stuttgarter Beethovensaals hinunter und dann über ein Treppchen hinauf auf die Bühne zu den dort sitzenden Musikern des Stuttgarter Kammerorchesters. Die zum Kraulen ausgestreckte Hand eines Geigers lässt er links liegen und trottet weiter zum rechten Bühnenrand, um dort KUKA, einen einarmigen Industrieroboter, zu begrüßen. Der wird im Verlauf des Abends noch eine Rolle spielen – im Gegensatz zu Spot, der nach seinem kurzen Auftritt im Seitenausgang verschwindet. Musikalisch geht es erst mal sehr klassisch los: Bobby Mitchell am Flügel spielt die Aria aus Bachs „Goldberg-Variationen“, in den folgenden Variationen gesellt sich dann das Orchester hinzu. Das klingt sehr schön – bis zur letzten, von KI komponierten Variation, die sich anhört, als hätten die Musiker ihre Einsätze verpasst und fiedelten nun irgendwelche Phrasen durcheinander. Das kann die künstliche Intelligenz also (noch) nicht. Aber was kann sie dann?
In Gerriet K. Sharmas „This is Water“, einer Auftragskomposition des SKO, soll ein entsprechend programmierter Roboter, in diesem Fall KUKA, mittels seiner visuellen und auditiven Assoziationen und seiner „Gefühle“ die vom Orchester gespielten Klänge kommentieren. Nun sind solche Verbindungen von Elektronik mit Orchestermusik schon ein ziemlich alter Hut, und auch der Einbezug visueller Medien ist grundsätzlich nichts Neues. Was aber „fühlt“ ein Roboter? Kann ein Apparat überhaupt Gefühle haben? Als Hörer jedenfalls fühlt man sich nach einiger Zeit zumindest gelangweilt, wenn nicht genervt von dem keinerlei nachvollziehbaren Struktur folgenden, durch Orchestergeräusche nur wenig aufgelockerten elektronischen Gewaber, Gefiepse und Geknister und den bunten, digital generierten visuellen Metamorphosen einer Ansicht des Beethovensaals auf den Monitoren. Und das wird auch beim letzten Stück des Abends, Terry Rileys „In C“ nicht besser, an dessen Ende sich Orchester und KI-Sound ein lärmendes, ins Kakophonische abdriftendes Improvisationsduell liefern. Immerhin: KUKA hat dabei seinen Job, nämlich auf dem Flügel unablässig ein C zu repetieren, sehr gut gemacht. Wenigstens dafür kann man Roboter also brauchen.

Beatrice Rana spielt Beethoven und Chopin

13.
Mrz.
2024

Man kann es für verwegen halten, für die erste Einspielung einer Beethovensonate die „Hammerklaviersonate“ op. 106 zu wählen, eines der schwersten Klavierwerke überhaupt. Und ist dann beim Hören verblüfft, mit welch unglaublicher technischer Souveränität Beatrice Rana dieses Monsterwerk nicht nur bewältigt, sondern in einer Differenziertheit gestaltet, die fast sprachlos macht. Rana arbeitet die Extreme dieses Werks mit größter Sensibilität und Tiefe heraus. Das Adagio sostenuto spielt sie als erschütternde, metaphysische Klage, der in der fulminant hingelegten Schlussfuge ein fast trotzig zupackender Lebenswille entgegengesetzt wird.

Mit derselben existenziellen Dringlichkeit interpretiert Rana Chopins Sonate b-Moll: fast überirdisch das Espressivo im Mittelteil des berühmten Trauermarsches, das Prestofinale spielt sie als irrlichternden Fiebertraum. Eine sensationelle Einspielung.

Beatrice Rana. Chopin. Beethoven. Sonatas „Funeral March“. „Hammerklavier. Warner 5054197897658.

Sol Gabetta und das Estonian Festival Orchestra in Stuttgart

21.
Jan.
2024


Fast wirkt es ein bisschen kurios, wie Antonín Dvořák in seinem Cellokonzert h-Moll das Soloinstrument behandelt. Im ersten Satz dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis nach der Orchesterexposition endlich der Solist einsetzen darf. Im Finale dagegen scheint das Füllhorn an Melodien, die der Komponist dem Cello anvertraut, gar kein Ende zu nehmen – ja, fast könnte man meinen, Dvořák habe sich während des Kompositionsprozesses in das Instrument verliebt.
Verlieben konnte man sich am Samstagabend im Meisterkonzert ebenfalls: und zwar in die Art und Weise, mit der Dvořáks Werk von Sol Gabetta und dem Estonian Festival Orchestra unter der Leitung von Paavo Järvi aufgeführt wurde.
Seit über 20 Jahren nun ist Sol Gabetta eine feste Größe im Konzertleben, in ihren Konzerten hat sich die zierliche 42-Jährige aber eine Frische bewahrt, die ansteckend ist. Cellospielen ist toll – diesen Eindruck vermittelt sie! Wunderbar, wie sie im Kopfsatz mit dem Orchester dialogisiert, sich inspirieren lässt von der Phrasierungslust der Holzbläser. Im Adagio lässt sie, belebt durch sensibel dosierte Vibrati, die Kantilenen aufblühen und zeigt dann im Finale noch einmal das ganze Spektrum ihrer Meisterschaft: fast lässig wirken die stupend hingelegten Glissando-Doppelgriffe, intonatorisch bestechend sauber sind die Akkordbrechungen, die sie da in höchsten Cellolagen ausführt – und all das nie mechanisch, sondern eingebettet in den Fluss der Musik. Der Jubel nach dem Schlussakkord war groß, als Zugabe gab es, assistiert von der Cellogruppe des Orchesters, eine Preziose: „Song of the birds“, eine Art katalanische Hymne, die Pablo Casals immer nach seinen Konzerten im Exil zu spielen pflegte.
Nach der Pause dann Tschaikowsky – und zwar nicht eine seiner bekannten Sinfonien, sondern die mit 26 Jahren komponierte Erste, die in ihrer lebensbejahenden Diesseitigkeit nichts zu tun hat mit der schicksalsbeladenen Schwere der beiden letzten Sinfonien. Järvi hat ja sämtliche Sinfonien Tschaikowskis mit dem Tonhalle-Orchester Zürich aufgenommen, und seine Erfahrung mit dieser Musik beweist er auch an diesem Abend. Denn auf der sprichwörtlichen Stuhlkante musiziert das von ihm gegründete Orchester aus Estland, das vielleicht in den Streichern nicht über den Luxusklang etablierter Klangkörper verfügt, dies aber durch Brillanz und Spielfreude mehr als ausgleicht. Ein toller Abend, funkensprühend bis zur Zugabe: Hugo Alfvéns „Vallflickans“.

Arcadi Volodos spielte in Stuttgart

17.
Dez.
2023

Als neuer Supervirtuose wurde Arcadi Volodos gehandelt, nachdem er 1997 auf seinem ersten Album seine zirzenischen Fähigkeiten eindrucksvoll demonstriert hatte. Dass er pianistisch nach wie vor in die alleroberste Liga gehört, dabei aber weit mehr zu bieten hat als bloße Tastenartistik, zeigte der mittlerweile 51-Jährige nun bei seinem Recital im Rahmen der Meisterpianistenreihe.
Zu Beginn lässt Volodos das Licht im Saal dimmen – hier gilt´s allein dem Klang, und nicht nur diese Angewohnheit teilt er mit seinem berühmten Kollegen Grigory Sokolov. Auch dem sind die Äußerlichkeiten des Musikbetriebs ein Gräuel. Anstatt als Solisten mit Orchestern durch die Welt zu jetten, konzentrieren sich beide lieber auf dramaturgisch stimmige Soloprogramme, mit denen sie auf Tour gehen.
Die erste Programmhälfte war Alexander Skrjabin gewidmet. Beginnend mit zwei Etüden aus op. 8 spielte Volodos die 10. Sonate, dazu eine Auswahl aus Préludes, Etüden und Poèmes, innerhalb der die Entwicklung von Skrjabins Klangsprache von einer post-chopinesken Melancholie zu einer Form und Tonalität sprengenden Radikalität deutlich wurde. Skrjabins Ziel war Ekstase als Zeit und Raum transzendierende Erfahrung, und in keinem Klavierstück ist er diesem Zustand näher gekommen als in „Vers la flamme“, mit dem Volodos den ersten Teil fulminant beschließt. Aus dem Glutkern eines sinistren Motivs heraus verdichten sich züngelnde Flammen, die sich am Ende zu einer alles verzehrenden Feuersbrunst auftürmen. Pianistisch ist das mit einer Souveränität gestaltet, die sprachlos macht. Manuelle Schwierigkeiten, die es hier zuhauf gibt, scheinen für Volodos nicht zu existieren. Seismografisch ausdifferenziert erscheint das Spektrum seiner Anschlagskunst, unerschöpflich das Repertoire an Farben, die er dem Steinway entlockt.

Nach der Pause Schubert, die späte Sonate a-Moll D 845, und wer sich zuvor gefragt hat, was dieser mit Skrjabin zu tun hat, bekommt von Volodos eine Antwort: selten wurden Schuberts Außenseitertum und sein Ringen mit der Form derart plastisch dargestellt. Im Kontext von Skrjabins Exzentrik erscheint Schuberts Komponieren als verzweifelte Suche nach Neukonzeption, als Aufbäumen gegen den Verlust von Gewissheiten. Das Publikum, leider nicht sehr zahlreich, begriff den Rang dieses Abends und applaudierte im Stehen. Vier Zugaben: zwei Miniaturen von Schubert und Skrjabin, gefolgt von einer funkensprühenden Malaguena Ernesto Lecuonas. Am Ende „El lago“ von Federico Mompou. Und still ruhte der See.

Labsal für die Ohren

10.
Dez.
2023

Das SWR Vokalensemble mit Vorweihnachtlichem in der Gaisburger Kirche

Winter? Weit ist es ja noch nicht her mit ihm. Bei gefühlten zehn Grad Außentemperatur jedenfalls eilte man am Samstagabend durch Platschregen in Richtung Gaisburger Kirche, wo das SWR Vokalensemble seins traditionelles Vorweihnachtskonzert zu präsentieren pflegt. „Wintermusik“ war es in diesem Jahr tituliert – doch wie klingt er, der Winter?
Vielleicht so, wie ihn die polnische Komponistin Adrianna Kubica-Cybek in ihrem Stück „L´hiver“ imaginiert. Lang gezogene, sich in Sekundabständen reibende hohe Töne der Soprane evozieren zu Beginn einen eisig pfeifenden Wind, der einen beim Hören quasi die Schultern hochziehen lässt. In diese Stimmung hinein fallen dann die ersten Schneeflocken in Form absteigender Glissandotöne einzelner Sänger, die sich dann im weiteren Verlauf im ganzen Chor ausbreiten und zu einem veritablen Schneegestöber verdichten. Am Ende hört man von irgendwo sacht die Glocken verklingen. Kompositorisch ist das derart brillant gemacht, dass die Winterstimmung atmosphärisch zum Ausdruck kommt, ohne dass die Musik im mindesten plakativ wirken würde – der Kunstcharakter bleibt jederzeit erhalten.
Im Gegensatz zu Peteris Vasks „Plainscapes“ für Chor, Violine und Cello. Spätestens beim Einsetzen der Vogelstimmen offenbart sich die latente Oberflächlicheit von Vasks widerstandslos auf Wirkung abzielender Musik, die in starken Passagen immerhin wie gute Filmmusik klingt, in schwachen sich aber gefährlich in Kitschnähe bewegt. Die großartige Ausführung, hier unterstützt durch Alexander Knaak (Violine) und Dita Lammerse (Cello) soll diese Kritik nicht schmälern.
Blieb es doch auch das einzige künstlerisch fragwürdige Werk dieses Abends, das mit Arvo Pärts auratischem Magnificat berückend intensiv begonnen hatte. Dass, wie Chormanagerin Dorothea Bossert bei ihrer Begrüßung sagte, einige Tenöre krankheitshalber kurzfristig ersetzt werden mussten, fiel hier genausowenig auf wie in den überirdisch schönen Harmoniegewändern, in die der schwedische Komponist Jan Sandström Michael Praetorius´ „Es ist ein Ros entsprungen“ gekleidet hat. Pure Labsal für die Ohren. Arvo Pärts Berliner Messe, bei der Lars Schwarze den Orgelpart übernahm, wurde dann in drei Abschnitten gesungen, zwischen die zwei Vokaltranskriptionen aus der Feder Clytus Gottwalds über Werke von Ravel und Debussy geschoben waren – jede für sich ein Musterbeispiel kongenialer Bearbeitungskunst. Interessant dabei zu hören, wie sich die Beschränkung des Materials bei Pärt und die Ausdifferenzierung bei Gottwald an jenem Punkt trafen, wo es um Intensität des Ausdrucks geht: nicht die Mittel sind entscheidend, sondern die Art, wie sie eingesetzt werden. Was für ein Abend!

Wiederholung ist nicht alles

14.
Nov.
2023

Das Freiburger Barockconsort und das Ensemble Recherche in einem gemeinsamen Konzert

Glamour, so Wikipedia, beschreibt „ein besonders prunkvolles oder elegantes Auftreten oder Selbstdarstellen in der Öffentlichkeit, das sich von Alltag und Durchschnitt abhebt.“ Was muss man sich also vorstellen, wenn das Freiburger Barockconsort und das Ensemble Recherche ihr gemeinsames Konzert im Mozartsaal mit diesem Begriff annoncieren? Vielleicht, dass die Musiker in spektakulären Roben auftreten? Oder geht es um luxuriös arrangierte und glanzvoll festliche, die Sinne bezirzende Stücke? Ein Blick ins Programm klärt rasch auf, bezieht sich sich der verheißungsvolle Titel doch auf ein einziges Werk: „Glamour Sleeper“ von Donnacha Dennehy. Wer diesen Namen nicht in Verbindung mit alter Musik zu bringen vermag, liegt richtig, denn Dennehy ist 1970 geboren und betont seine Verbundenheit mit Rock und ektronischer Musik – was seinem Stück auch deutlich anzuhören ist. Freundlich könnte man sagen, dass der Komponist damit versucht, die Intensität eines Rockkonzerts auf klassischen Instrumenten wie Klavier, Klarinette und Geige zu erzeugen. Andere könnten es allerdings auch schlicht als Lärm empfinden.
Dass ein Konzertabend abwechselnd von einem Ensemble für alte und einem für zeitgenössische Musik gestaltet wird, ist ja durchaus ungewöhnlich, liegt aber im gemeinsamen Probengebäude von FBO und Ensemble Recherche, dem Ensemblehaus Freiburg, begründet. Und grundsätzlich ist gegen die Idee, aus seinen angestammten Stilrevieren auszubrechen und den Blick über den Tellerrand zu wagen, ja auch nichts einzuwenden. Genausowenig wie gegen die, den Tanz, der in fast allen musikalischen Epochen eine Rolle gespielt hat, als programmatische Klammer des Abends einzusetzen, um auf diese Weise Verbindungen zwischen alter und neuer Musik aufzuzeigen. Aber gibt es wirklich keine zeitgenössischen Stücke, die das subtiler tun und mit denen sich mehr Rücksicht auf die zarten Klänge eines Barockconsorts nehmen ließe, als die zum Teil brachial daherkommenden Kompositionen von Michael Gordon, David Lang oder Guillaume Connesson? Und mussten es, so animiert und filigran sie vom siebenköpfigen Freiburger Barockconsort auch gespielt wurden, denn wirklich – wenn man von einer Suite Purcells mal absieht – drei ausgedehnte Kompositionen sein, die sich allesamt auf die ständige Wiederholung einer einzigen Akkordfolge beziehen? Im Falle von Antonio Bertalis Ciaconna C-Dur nervtötend gefühlte 500 Mal?

Wer bezahlt für unseren Luxus?

30.
Okt.
2023

Richard Strauss´ „Die Frau ohne Schatten“ an der Staatsoper Stuttgart

Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn sie Kinder gebären kann? Selbst wenn diese Ansicht innerhalb der aktuellen Geschlechterdiskussion als hoffnungslos anachronistisch gelten dürfte, erscheint sie in Richard Strauss´ Oper „Die Frau ohne Schatten“, die nun an der Staatsoper Stuttgart neu inszeniert worden ist, sogar metaphorisch überhöht. Hier steht für die weibliche Fruchtbarkeit das Symbol des Schattens: die titelgebende Kaiserin, als Tochter des Geisterfürsten Keikobad eine Art Mischwesen, muss diesen Schatten innerhalb von drei Tagen erlangen. Ansonsten wird ihr Gatte, der Kaiser, versteinern.
Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal haben für diese romantische, während des Ersten Weltkriegs entstandene Oper verschiedenste Sphären kombiniert. Man findet, garniert mit diversen Orientalismen, Elemente aus Drama, Märchen und Volkstheater. Dazu bezieht sich Strauss auf Mozarts „Zauberflöte“, was sich auch in der Trennung der Protagonisten in ein hohes und ein niederes Paar zeigt: neben Kaiserin und Kaiser sind das die Färberin und deren Mann Barak.
Der Regisseur David Hermann nun zeigt in seiner Inszenierung die Lebenswelten beider Paare gleichsam als Vorder- und Rückseite unserer modernen Zivilisation. Jo Schramm hat ihm dafür in Stuttgart eine Bühnenkonstruktion gebaut, wie man sie in solch visionärer Wucht lange nicht gesehen hat. Oben, quasi in der Beletage, residiert das Kaiserpaar in einem Ambiente, das an Architektenhäuser oder Museumsfoyers erinnert. Kein Krümel trübt das Bild der edel gestylten, grauen Steinelemente, dezent schimmert die indirekte Beleuchtung. Doch wer bezahlt dafür den Preis? Das erfährt man, wenn in einem fulminanten Szenenwechsel diese Ebene während des ersten Akts nach oben fährt und den Blick auf die Unterwelt freigibt, wo in einer Art Betonbunker das Prekariat ums Überleben kämpft. Die Außenwelt, so scheint es, ist bereits weitgehend zerstört und kontaminiert, sodass die Menschen nur in Schutzkleidung und mit Gasmasken nach draußen können. In dieser Tristesse leben auch der Färber und seine Frau, die von der Amme, einer Bediensteten der Kaiserin, das verlockende Angebot bekommt, gegen Abtretung der Fruchtbarkeit ihr Elend gegen Luxus und Liebesglück zu tauschen.
Doch das Ganze erfährt eine weitere, noch beeindruckendere Volte im dritten Akt. Dann öffnet sich, wie ein zusammengestecktes Schokoladenei, plötzlich der Bunker in zwei Teile und gibt den Blick nach draußen frei in ein totales Schwarz – das man nicht zuletzt deshalb mit Weltraum assoziert, weil hernach ein vielfarbig schillerndes Gestirn herunterfährt – wie eine Mischung aus göttlicher Emanation, magischem Auge und Geist, das der Szene eine verstörende Eindringlichkeit verleiht.
Nicht alles lässt sich eindeutig interpretieren und erklären in dieser insgesamt spektakulären Inszenierung, was man durchaus als Qualität begreifen kann. Dazu zählt auch der in der Mitte des Bunkers sich windende Riesenwurm. Der verschwindet, taucht dann aber am Ende der Oper – wie, das soll hier zugunsten jener, die die Oper besuchen möchten, nicht verraten werden – auf sehr überraschende Weise wieder auf.
Die Wirkung dieser Produktion ist aber auch deshalb so nachhaltig, als die musikalische Umsetzung schlichtweg grandios zu nennen ist. Das beginnt bei den fabelhaften Sängern: dass das Stück so selten gespielt wird, liegt nicht zuletzt daran, dass man für die Hauptrollen mindestens fünf Wagner- und Strauss-gestählte Spitzenkräfte mit belastbaren Stimmbändern benötigt. Und die hat man in Stuttgart. Zwar ist nur die überragende Simone Schneider als Kaiserin aus dem hauseigenen Ensemble, aber mit Benjamin Bruns (Kaiser), Evelyn Herlitzius (Amme), Martin Gantner (Barak) und Iréne Theorin (Färberin) wurde eine Riege an Sängern verpflichtet, die auch höchsten Ansprüchen gerecht wird.
Der Stuttgarter Cornelius Meister schließlich evoziert mit dem Staatsorchester einen Klangrausch, wie man in in solcher Vielfalt kaum je gehört hat. Es ist ein Riesenorchester, das Strauss hier verlangt, angereichert mit exotischem Instrumentarium wie Glasharmonika und chinesischen Gongs, dazu kommt der verdeckt agierende Opern- und Kinderchor, und Meister koordiniert diese Massen auf imponierend souveräne Manier. Mitreißend die fast cineastische Wucht der Klangeruptionen, berührend aber auch das subtile Ausleuchten von Details, die fein gesponnenen kammermusikalischen Passagen samt der berührend intensiven Streichersoli. Am Ende tosender Jubel, nur vereinzelte Buhs für die Regie. (Südkurier)

Der Dirigent als Showman

22.
Okt.
2023

Das City of Birmingham Symphony Orchestra eröffnete die Meisterkonzertreihe im Beethovensaal

Erst im März dieses Jahres war das City of Birmingham Symphony Orchestra mit einem bejubelten Auftritt in Stuttgart zu Gast, damals noch unter ihrer Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die das Orchester sieben Jahre lang geleitet hatte. Ein halbes Jahr später nun gastierte es zu Eröffnung der Meisterkonzertreihe unter seinem neuen Chefdirigenten Kazuki Yamada erneut im Beethovensaal. Mitgebracht hatte man als Solisten das Klavierduo Lucas und Arthur Jussen: die holländischen Beaus sind das derzeit wohl schillerndste Brüderpaar der Klassikszene. Bei seinen Auftritten – erst im Januar diesen Jahres in der Meisterpianistenreihe – pflegt es das Publikum mit seinen zirzenischen Klavierkünsten und seiner Energie zu Beifallsstürmen hinzureißen. Pianistisch sind die beiden derart versiert, dass sie vermutlich auch als Solisten reüssieren könnten, was sie an diesem Abend allerdings in Mozarts Konzert für 2 Klaviere und Orchester KV 365 nur ansatzweise zeigen konnten. Mozart hatte das Werk für sich und seine Schwester Anna geschrieben, und außer punktgenauem Zusammenspiel – für die Jussens eine Selbstverständlichkeit – stellt es für Pianisten kaum eine Herausforderung dar. Gleichwohl freute man sich über das fein ausgearbeitete, animierende Musizieren der Brüder und die Freude wäre noch größer gewesen, hätte Kazuki Yamada das (zu) groß besetzte Orchester mit ähnlicher Differenziertheit behandelt wie die Pianisten ihre Instrumente.
Denn schon beim ersten Stück des Abends, Prokofjews Sinfonie Nr. 1 D-Dur wurde deutlich, dass Yamada ein Dirigent ist, der die große Geste, den äußerlichen Effekt bevorzugt: der Charme dieses bewusst mit historisierenden Elementen angereicherten Werks geriet in den Hintergrund angesichts der plakativen Zurschaustellung orchestraler Virtuosität. Auch nach der Pause wurde das Potential des Orchesters nur andeutungsweise deutlich. Rachmaninows Sinfonische Tänze sind ein doppelbödiges Werk, in das der Komponist, fern von äußerlicher Klangpracht und süßem Melodienzauber, an existenzielle Menschheitsfragen rührt. Das gilt besonders für den dritten, von bitterer Klage und dämonischem Tanz geprägten Satz, der an diesem Abend fast wie Filmmusik klang: eindrucksvoll, aber inhaltsleer. Immerhin: Yamada ist ein begabter Showman. Zur Zugabe, dem rasant hingelegten „Lezginka“aus Khachaturians „Gayane“- Suite, tanzte er auf dem Podium.

Große Klavierkunst

22.
Okt.
2023

Beatrice Rana eröffnete die Meisterpianistenreihe im Beethovensaal


Es sind gleich zwei Reisen, auf die uns Beatrice Rana bei ihrem Klavierrecital im Beethovensaal mitnimmt. Die erste beginnt mit dem Fiebertraum von Alexander Skrjabins Fantasie h-Moll. Aus dessen rauschhaftem Taumel erwacht, taucht man mit Mario Castelnuovo-Tedescos Cipressi op. 17 ein in die kontemplative Beschwörung einer toskanischen Landschaft. Obwohl Castelnuovo-Tedesco, der selbst in der Toskana aufgewachsen ist und vor den Faschisten in die USA emigrierte, bereits in diesem Frühwerk sein ungeheures kompositorisches Talent zeigt, wird er bis heute – möglicherweise liegt es an seiner vergleichsweise konventionellen Tonsprache – nicht unter den großen Komponisten des 20. Jahrhunderts geführt. Beatrice Rana jedenfalls widmet sich seiner Preziose mit derselben Sorgfalt, mit der sie anschließend Claude Debussys Prélude „La terrasse des audiences du clair de lune“ als klangliche Phantasmagorie erstehen lässt. Berückend, mit welcher Gestaltungskraft sie die Farbvaleurs der Mixturklänge als klangliche Entsprechung des einfallenden Mondlichts zeichnet und dabei, bei aller pianistischen Definition, nicht den Charakter des skizzenhaft Vagen verliert.
Das Tosen des Ostwindes in „Ce qu’a vu le vent d’ouest“ aus dem ersten Band von Debussy Préludes schließlich führt, pianistisch fulminant realisiert, das konzertante Boot auf die sagenumwobene Insel Kythera. Das dortige glückhaft unbeschwerte Leben beschreibt Debussy in „L´Isle Joyeuse“, einem seiner pianistisch anspruchsvollsten Klavierwerke, das Beatrice Rana mittels einer schier unerschöpflichen Skala dynamischer Abtönungen in Klang setzt.
Nach dem Pausen-Intermezzo bildet Franz Liszts Sonate h-Moll, die Tonart schließt den Bogen zum ersten Stück des Programms, die zweite, diesmal nicht deskriptive Reise. Nicht selten wird das Stück – Oktavkaskaden und Donnerpassagen führen leicht auf diese Fährte – als Virtuosenreißer missbraucht. Beatrice Rana freilich zeigt Liszts opus summum als Meisterstück dramaturgischer Durchformung. Wie sie aus dem musikalischen Material die Struktur des Werkes aufbaut, mit ständig steigender Innenspannung und grenzenlos scheinenden technischen Reserven dessen dramatisch-epische Kräfte bis zur Apotheose verdichtet, das ist ganz große Klavierkunst.
Bravi anschließend im schwach besetzen Saal und zwei Zugaben: Skrjabins Etüde cis-Moll op.2 und Debussy Etude No. 6 „Pour les huits doigts“.

Das Staatsorchester Stuttgart begeistert mit Bartók und Mahler

18.
Jun.
2023

Musik als Liebeserklärung, das gibt es öfters in der klassischen Musik. Der 74-jährige Janáček etwa komponierte sein zweites Streichquartett „Intime Briefe“ als Liebesgeständnis an die 36jährige Kamila Stöslová. Die Liebe wurde nicht erwidert, das Begehren blieb und war Janáček eine lange währende Inspiration. Auch Béla Bartók war in die sieben Jahre jüngere, genial begabte Geigerin Stefi Geyer verliebt, der er 26-jährig sein erstes Violinkonzert widmete. „Aus dem Herzen heraus“, so Bartók, habe er das Werk geschrieben. Und das hört man. Ein kaum verhaltenes Schwärmen prägt den ersten Satz, in dem die Solovioline sich immer wieder zu süßen Kantilenen aufschwingt, und Christian Tetzlaff spielt das betörend schön, fein balancierend auf dem Grat zwischen Überschwang und latenter Bitterkeit, der vielleicht schon die Ahnung eingeschrieben ist, dass es nichts werden könnte mit dem Liebesglück. Im zweiten Satz des musikalischen Porträts demonstriert Tetzlaff weitere Facetten seines geigerischen Könnens: „Giocoso“, spielerisch, bewältigt er der Vortragsanweisung gemäß die techischen Vertracktheiten, mit denen Bartók Stefi Geyers extrovertierte Seite zeigen will. Cornelius Meister am Pult des Staatsorchesters ist ihm dabei ein Bruder im Geiste, der die Ausschläge in Bartóks Liebesdrama mit dem bestens disponierten Staatsorchester in seelischem Gleichklang mit dem Solisten nachzeichnet.
Ein Erlebnis, das nach der Pause noch einmal übertroffen wird von einer, ja, triumphalen Interpretation von Mahler monumentaler 5. Sinfonie. Der Stuttgarter GMD Cornelius Meister hat sich zu einem genuinen Mahlerdirigenten entwickelt, dem es auf überwältigende Weise gelingt, unterschiedliche Qualitäten zu bündeln. Meister lässt die Extreme dieser Musik, ihre elementare Wucht und Maßlosigkeit, aber auch ihre herzzerreißende Klage und spirituelle Hoffnung vorbehaltlos ausspielen, beweist aber auch Sinn für die Zwischentöne, für das Uneindeutige und Tastende und behält dabei die Dramaturgie des Satzganzen immer im Blick. Nach drei Sätzen ist man da als Hörer emotional derart durchgerüttelt, dass das traumverlorene Adagietto wie Balsam auf die Seele wirkt, ehe sich das Finale in einer gewaltigen Kulmination aller Kräfte entlädt. Das Staatsorchester spielt das wie entfesselt, am Ende gibt es Ovationen. Ein Ereignis. Wer es nicht hören konnte: am Montagabend wird das Konzert wiederholt.