Überlegen disponiert

26.
Mrz.
2023

Bachs Messe h-Moll zum Abschluss der Bachwoche Stuttgart

Was den sängerischen und instrumentalen Nachwuchs der Alte-Musik-Szene anbelangt, so braucht man sich keine Sorgen zu machen – davon konnte man sich am Samstagabend im Konzertsaal der Stuttgarter Musikhochschule beim Abschlusskonzert der Bachwoche überzeugen. Knapp zwei Wochen Probenarbeit hatten die Teilnehmer der Ausbildungs- und Meisterklassen hinter sich, um dann als Höhepunkt unter der Leitung von Hans-Christoph Rademanns Bachs h-Moll-Messe aufzuführen. Das Werk, so bekannt und beliebt es sein mag, ist immer noch ein Prüfstein: vor allem für den Chor, der etliche polyphone Vertracktheiten zu bewältigen hat, aber auch für die Vokalsolisten. Was die anbelangt, so konnte Rademann unter den Teilnehmern der Meisterkurse aus dem Vollen schöpfen, waren darunter neben Studenten doch auch einige Sängerinnen und Sänger, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben und bereits im Konzertleben etabliert sind. Dazu zählt etwa die australische Sopranistin Morgan Balfour, die zusammen mit dem lyrischen Tenor Emanuel Tomljenovic ein Traumduo im Domine Deus bildete: zwei wunderbar timbrierte, biegsame Stimmen, die obendrein noch sehr textverständlich agieren. Wenn auch nicht alle hier genannt werden können, so seien seien wenigstens noch der frei ausschwingende Altus von Nicholas Burns sowie der feine Bariton Jared Swope erwähnt – aber auch von vielen der anderen Solisten wird man noch hören.

Den Rückgrat der Aufführung freilich bildete der Chor. Für historische Aufführungspraxis recht groß besetzt, verblüffte er mit großer Beweglichkeit gerade in fugierten Teilen wie dem Kyrie, die klar konturiert und ohne Reibungsverluste gelangen. Dazu verfügte er aber auch über die kompakte Klangfülle für koloraturenreiche Jubelsätze wie Gloria oder Sanctus, die von Rademann energiegeladen und mit bezwingender Dramatik realisiert wurden. Dessen Vertrautheit mit der Partitur – er dirigierte auswendig – war denn auch der Schlüssel zu einer ingesamt fesselnden Aufführung, bei der sich präzises Gestalten im Kleinen in Form einer an der Sprache angelehnten Artikulation mit einer überlegenen Disposition im Großen vereinte.

Und schließlich sollte man auch das erstklassige Orchester mit seinen fabelhaften Solisten nicht vergessen, allen voran der Naturhornist Gustav Borggrefe und die Trompeterin Andrea Braun: auch was die Achillesfersen mancher Barockorchester anbelangt – Grund zur Sorge besteht nicht.

Frank Armbruster

Huldigung der kosmischen Liebe

17.
Mrz.
2023


Das SWR Symphonierorchester spielte Messiaens  «Turangalîla»-Sinfonie

Spektakel? Das kann man musikalisch auf verschiedene Weise haben. Während sich im Apollo Theater illustres Publikum zur Premiere des Musicals „Tina“ versammelt hat, konnte man wenige Kilometer entfernt im Beethovensaal der Aufführung eines der ungewöhnlichsten sinfonischen Experimente der Musikgeschichte beiwohnen: Olivier Messiaens «Turangalîla»-Sinfonie. Die ist ein monströses, alle Dimensionen sprengendes Riesenwerk, mit dem der Komponist jener absoluten Liebe huldigte – er nannte sie kosmische Liebe – die, auf Ewigkeit zielend wie jene zwischen Tristan und Isolde, letzlich in den Tod mündet. Dazu hat Messiaen alles aufgefahren, was ihm als Komponist zur Verfügung stand: ein Riesenorchester mit dreifach besetzten Holzbläsern, aufgerüstet mit multiplem Schlagwerk samt Celesta und Glockenspiel, dazu ein Klavier. Und natürlich jenes merkwürdige Instrument names Ondes Martenot, ein Vorläufer der elektronischen Musik, das uns heute mit seinem an eine singende Säge erinnerenden Sound kurios vorkommen kann.
Doch nicht nur die schiere Fülle an Klangfarben kennt kaum einen Vergleich, auch stilistisch ist es ein Konglomerat heterogenster Elemente: Messiaen verwebt darin hochkomplexe indische Rhythmen, impressionistische Harmonik und quasi-hollywoodeske Filmmusikanklänge zu einem hybriden, keinerlei ästhetischen Beschränkungen unterliegenden Gesamtkunstwerk.
Das SWR Symphonieorchester nun tat sein Bestes, um Messiaens Vision klangliche Realität werden zu lassen. Brad Lubman als Kapitän des sinfonischen Riesenschiffs hatte dabei alle Hände voll zu tun, seine musizierenden Heerscharen auf der proppenvollen Bühne sicher durch die Partitur zu steuern. Was ihm gut gelang. Maßgebliche Unterstützung erfuhr er dabei von Francois-Frédéric Guy, der den halsbrecherischen Klavierpart souverän meisterte und dabei seinen Mitmusikern auch rhythmisch strukturierend zur Seite stand. Was den dramaturgischen Bogen anbelangt, der die insgesamt zehn Sätze überspannt, so hätte man sich vielleicht noch eine stringentere, erzählerische, die Charakteristika der einzelnen Sätze prägnanter herausarbeitende Haltung gewünscht. Auch was die – zugegeben extrem heikle – Klangbalance anbelangt, wäre an manchen Stellen durchaus noch Luft nach oben gewesen. Eine imposante Leistung war die Aufführung gleichwohl. Und der große Beifall im gut besuchten Saal verdient.

Der Hohepriester des Klaviers

08.
Mrz.
2023

Grigory Sokolovs Recital in der Meisterpianistenreihe

Grigory Sokolovs Vorliebe für barocke Klaviermusik ist bekannt – seit Jahren spielt er Werke von Komponisten wie Rameau oder Couperin, die andere Pianisten in der Regel links liegen lassen. Bei seinem Recital innerhalb der Meisterpianistenreihe im Beethovensaal nun waren es Stücke des englischen Barockmeisters Henry Purcell, denen die komplette erste Programmhälfte gewidmet war: eine ohne Unterbrechungen gespielte Abfolge von Einzelwerken und drei Suiten, die Sokolov in fast meditativem Duktus zelebrierte, erlesen durchtrillert als zeitenthobene Preziosen. Eine Art mentale Fastenkur – mit dem überraschenden Effekt, dass man Mozarts Sonate Nr. 13 B-Dur – ein Stück, das, wenn überhaupt, von Großpianisten allenfalls als Auftaktwerk programmiert würde – hernach als jenes Wunderwerk an Komplexität und Ausdrucksvielfalt erlebte, das es für Mozarts Zeitgenossen auch gewesen sein dürfte.
Hörerfahrungen dieser Art sind es, die Sokolovs Klavierabende, zusammen mit ihren pianistischen Qualitäten, zu singulären Ereignissen machen: hier geschieht, das spürt man, etwas Unwiederbringliches, kann man existenzielle Erfahrungen machen, die sich auch durch eine Konservierung auf Tonträgern nicht reproduzieren lassen, weshalb Sokolov auch nur selten Konzertmitschnitte freigibt.
Mit Mozarts todtraurigem Adagio h-Moll KV 540 endete dann der offizielle Teil des Programms, dem, das ist bekannt, in der Regel noch ein umfangreicher Zugabenteil folgt – so auch hier. Spielte sich der dynamische Bereich bis dahin praktisch ausschließlich, wenn auch in unfassbarer Differenzierung, im Bereich von dreifachem Piano bis Mezzoforte ab, so öffnete Sokolov mit den Zugaben – zunächst Brahms´ Intermezzo op. 117/2, dann eine chopinsche Mazurka und schließlich zwei Préludes von Rachmaninov – den Klang bis ins Orchestrale, um dann mit den Trillern in Chopins Mazurka op. post. 68/2 wieder an die Klangwelt von Purcell anzuschließen und den dramaturgischen Bogen zu runden. Das Publikum war im sehr gut gefüllten Saal bis dahin längst im Sokolovtaumel, dem Hohepriester des Klaviers seine Ovationen stehend entgegenbringend, und eigentlich hätte es mit dieser fünften Zugabe gut sein können. Dann aber geschah etwas Ungeheures. In Alexander Silotis Bearbeitung von Bachs Präludium BWV entfaltet sich eine Art Cantus firmus in langen Notenwerten über einer Sechzehntelbegleitung, und mit welch kontemplativer Kraft Sokolov nun diese Klangschichten auffächerte und in den Raum stellte, hatte etwas Magisches. Klavierspiel, nicht mehr ganz von dieser Welt.

Frank Armbruster

Mit Blitz und Pulverdampf

05.
Feb.
2023

„Der Räuber Hotzenplotz“ an der Staatsoper Stuttgart

„Alles gut!“ ist, selbst wenn es nicht immer zutrifft, wohl eine der aktuell am häufigsten verwendeten Phrasen. Zum Ende der Geschichte um den Räuber Hotzenplotz passt sie aber auf jeden Fall: denn da hat die Großmutter ihre geliebte Kaffeemühle ebenso zurück wie Kasperl und Seppel die Freiheit samt ihrer Mützen wiederbekommen haben. Und auch der Wachtmeister Dimpfelmoser ist zufrieden, kann er doch den Räuber Hotzenplotz endlich hinter Schloss und Riegel bringen.
Vor gut 60 Jahren hat Otfried Preußler den ersten Band des Kinderbuchklassikers geschrieben, der in über 30 Sprachen übersetzt und um die 3 Millionen Mal verkauft wurde. Dreimal wurde er verfilmt, zuletzt 2022 von dem Schweizer Regisseur Michael Krummenacher, und x-fach als Theaterstück adaptiert. Überzeugende Bearbeitungen für die große Musiktheaterbühne aber gab es bislang noch nicht – ein Manko, dem die Staatstheater Stuttgart nun mit einer Neubearbeitung des Stoffes durch den Komponisten Sebastian Schwab abgeholfen haben. Und damit – darauf deuten die begeisterten Reaktionen nach der Premiere am Samstagabend hin – wohl einen nachhaltigen Erfolg landen werden.
Der dürfte nicht zuletzt darauf beruhen, dass das Regieteam um Elena Tzavara die komödiantischen Elemente des Stücks sehr wirkungsvoll in Bühnenaktion übersetzt hat und dabei auch das zum großen Teil aus Kindern bestehende Publikum in die Handlung miteinbezieht. Die inszenatorische Grundidee folgt dabei dem Vorbild des Kasperletheaters. Auf das hat sich Preußler selbst berufen, „Eine erzählte Kasperlgeschichte“ nannte er sein Buch in der Widmung an seine Töchter.
„Seid ihr alle da?“ wird das Publikum in Stuttgart folgerichtig gefragt, und auch das Bühnenbild nimmt diesen Topos insofern auf, als Elemente des kleinformatigen Puppentheaters auf die Dimensionen einer Opernbühne hochgezoomt werden. Wie in einer Manege treten die Protagonisten durch verschieden große Bühnenvorhänge auf und ab, deren Farben jeweils für eine Person und Örtlichkeit stehen: gelb steht für das Häuschen der Großmutter, grün ist der Räuberwald und die geheimnisvolle Welt des Zauberers Petrosilius Zwackelmann wird durch schimmerndes Schwarz symbolisiert. Das mag, gemessen an den Möglichkeiten eines Staatstheaters, etwas schlicht erscheinen. Allerdings gleicht die Regie dies durch allerhand Theatertricks und Effekte aus: wenn etwa Zwackelmann mittels Blitz und Pulverdampf den Seppel herbeizaubert gibt es viele überraschte Ahs und Ohs samt Szenenapplaus vom Publikum.
Dass der gut zweieinhalbstündige Abend wie im Fluge vergeht, liegt aber auch an den allesamt erstklassigen Darstellern. Das gilt für Kasperl (Elliott Carlton Hines) und Seppel (Dominic Große), die ebenso mit Hingabe spielen und singen wie Clare Tunney als leicht hysterische Fee Amaryllis und Torsten Hofmann als Wachtmeister Dimpfelmoser. Eine Paraderolle hat Heinz Göhrig als Zauberer Zwackelmann, Maria Theresa Ullrich gibt eine herrlich überkandidelte Großmutter. Franz Hawlata schließlich füllt die Hauptrolle des Räuber Hotzenplotz mit baritonaler Präsenz im Stimmlichen und einer Ambivalenz im Darstellerischen aus, die den Gesetzesbrecher trotz seiner Untaten auf subtile Weise sympathisch wirken lässt.
Man kann das Stück schon für kleinere Kinder ab etwa sechs Jahren vorbehaltlos empfehlen, was auch an den überaus fantasievollen Kostümen von Elisabeth Vogetseder liegt, die allein schon eine Augenweide sind. Vor allem aber daran, dass, gestützt durch eine dezente elektronische Verstärkung, durchweg verständlich gesungen und gesprochen wird: Man versteht (fast) jedes Wort. Dazu überfordert die Musik auch die Kleinen nicht. Sebastian Schwab hat hier eine veritable Theatermusik geschrieben, die sich bei vielen Genres bedient. Eben tönt es noch, tubagestützt, wie aus einem bayerischen Bierzelt, dann wähnt man sich plötzlich in einer mexikanischen Bodega. Zu Beginn des zweiten Teils scheint man sich gar kurz in eine Puccinioper verirrt zu haben, bevor es musicalmäßig schmissig weitergeht.
Ein buntes Stilpotpourri, das den gängigen Prämissen zeitgenössischen Komponierens nicht entsprechen mag, aber dazu betragen könnte, die Oper breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Wäre unter seinen Vorgängerintendanten ein solches Stück auf dem Opernspielplan kaum vorstellbar gewesen, so dürfte es, gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Sanierung und der damit zusammenhängenden Diskussion über das künftige Publikum, eine bewusste Entscheidung von Viktor Schoner gewesen sein, um zu demonstrieren: So elitär ist die Oper doch gar nicht. Zumindest nicht immer.

Nahtloses Zusammenspiel

27.
Jan.
2023

Das Klavierduo Lucas & Arthur Jussen in der Meisterpianistenreihe

Man könnte mal eine Typologie anlegen mit den verschiedenen Arten, wie Pianisten den Weg vom Flügel zu den Saaltüren zurücklegen. Da gibt es einige, die sich, gezeichnet von den gerade durchlittenen Anstrengungen, schwerfällig dem Ausgang entgegenschleppen. Manche begreifen die Distanz als Catwalk, den es mit Grandezza zu durchschreiten gilt, während man bei anderen wiederum den Eindruck hat, dass sie sich am liebsten mehr oder weniger unbemerkt verkrümeln wollen – sie sind ja zum Klavierspielen und nicht zum Schaulaufen gekommen. Ziemlich einzigartig dürfte nun die Manier sein, mit der das Klavierduo Lucas & Arthur Jussen bei ihrem Klavierabend im Stuttgarter Beethovensaal diese Strecke zurückgelegt hat: im Laufschritt nämlich. Als müssten sie hinter der Bühne noch dringend was erledigen, huschten die beiden nach jedem Stück mit einer Leichtfüßigkeit vom Podium, die vergessen ließ, dass sie eben noch auf höchst virtuose Weise Klavier gespielt haben.
Klavierduo ist bekanntlich, dem Punktklang der Instrumente geschuldet, eine heikle Disziplin: in der Regel braucht es lange Jahre gemeinsamer Arbeit, bis alle Asynchronitäten getilgt sind. Diese Qualität des nahtlosen Zusammenspiels erscheint bei den Jussen-Brüdern nun in einer Weise perfektioniert, die ihnen agogische Freiheiten ermöglicht wie man sie ansonsten von Solisten gewohnt ist. Das gilt sowohl für das vierhändige Spiel – wunderbar die atmende Phrasierung in Mendelssohns Andante und Allegro Brillante op. 92 wie auch in Schuberts berühmter Fantasie f-Moll D 940 – als auch für das Spiel an zwei Klavieren, das seinen Höhepunkt an diesem Abend in der atemberaubend hingelegten Klavierbearbeitung von Ravels „La Valse“ erreichte. Das Visionäre, Rauschhafte dieser Walzerapotheose, die in ihrer katastrophalen Zuspitzung gleichzeitig einen Abgesang auf eine Epoche darstellt, realisierten die hochbegabten Brüder derart mitreißend, dass der Wunsch nach Orchesterfarben gar nicht erst aufkam.

Das gilt nun nicht in gleichem Maße für Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ in der zweiten Programmhälfte. Durch die Reduzierung auf zwei Flügel erscheint das ohnehin dominierende rhythmische Element des Werks auf eine den Klangeindruck deutlich nivellierende Weise verstärkt, daran konnte auch die fabelhafte Anschlagstechnik der beiden Pianisten nichts ändern. Die Ovationen waren gleichwohl verdient, eine Zugabe gab´s dann auch: „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ aus BWV 106.

Frank Armbruster

Streichquartett der Zukunft

22.
Jan.
2023

Das vision string quartet begeisterte im Mozartsaal

Unter anderem als Wunschbild oder Zukunftsentwurf definiert das Wörterbuch den Begriff „Vision“ – und damit ist schon recht genau beschrieben, was sich hinter dem Namen vision string quartet verbirgt. Denn tatsächlich arbeiten die vier jungen Streicher – der Primarius Florian Willeitner ist derzeit wegen einer Handverletzung durch die Geigerin Byol Kang vertreten – mit ihrem Quartett an nichts weniger als an einer Vision dessen, wie die ehrwürdige Gattung Streichquartett in die Zukunft geführt werden kann. Denn machen wir uns nichts vor: das Gros der Besucher klassischer Kammermusikabende ist in der Regel im Rentenalter oder nicht viel davor. Und ob jüngeres Publikum nachrückt, ist die Frage.

Damit das gelingt, arbeitet das vision string quartet an mehreren Fronten. Eine davon ist das Erscheinungsbild. Im Netz sind die vier Visionäre mit coolen Videos unterwegs, und auch bei ihrem Auftritt im Mozartsaal am Samstagabend wirkten sie auf sympathische Weise nahbar. Sie tragen keine Fräcke, außer dem Cellisten spielen alle im Stehen, was sie vielleicht vom renommierten Artemis Quartett übernommen haben, bei dem sie studierten. Nun bewirkt ein lockerer Habitus noch keine große Kunst: in der Vergangenheit gab es bereits einige Streichquartette, die mit neuen Formaten experimentierten, kaum eines davon zählte freilich künstlerisch zur Elite.

Doch das ist beim vision string quartet völlig anders. Ihr Auftritt geriet zu einer Demonstration erlesener Streichquartettkunst, beginnend mit einer Quasi-Röntgenversion von Barbers berühmtem Adagio op.11 über das bitterernste, bekenntnishafte achte Streichquartett von Schostakowitsch bis zum blühenden Melos in Dvoráks G-Dur-Quartett op.106. Den eher gedeckt-herben Grundklang der drei Stammmitglieder erweiterte Byol Kang an der ersten Violine um strahlend helle Farben, insgesamt erschien jede Stimme, jeder Akkord minutiös ausgehört und austariert. Größte technische Kontrolle bei mitreißender emotionaler Beteiligtheit, so könnte man die Spielweise dieses Quartetts beschreiben. Von dessen Erweiterungen des Repertoires – hier sind wir bei der zweiten Front, an der das Quartett erfolgreich arbeitet – bekam man freilich nur durch die Zugabe etwas mit. „Plunk Ballad“ heißt das zwischen Jazz und Chinapop angesiedelte, selbst komponierte Pizzicatostück aus ihrer CD „Spektrum“, mit der sich das Quartett nach euphorischem Beifall vom Publikum verabschiedete. Vielleicht gibt es ja beim nächsten Konzert in Stuttgart mehr davon?

Teodor Currentzis dirigierte das SWR Symphonieorchester mit Werken von Berg und Schostakowitsch

20.
Jan.
2023

Es darf vielleicht als eines der vordringlichsten Verdienste von Teodor Currentzis gelten, dass er seit seinem Amtsantritt als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters den Sinn dafür geschärft hat, dass Musik mehr sein kann – oder mehr sein sollte? – als das Feierabendvergnügen eines gebildeten (oder sich dafür haltenden) Publikums. Bei Currentzis geht es immer um alles: Leben und Kunst bilden für ihn keine getrennten Sphären. Und wer sich einlässt auf die Kunst, sollte dafür brennen. Dafür spricht auch die Programmatik seiner Konzerte. Gern dirigiert er die schweren Brocken, darunter auch musikalische Weltentwürfe von Komponisten wie Mahler, Prokofjew oder Strawinsky; und auch für sein erstes Konzert 2023 standen nun mit Alban Bergs Violinkonzert und Dmitrij Schostakowitschs achter Sinfonie zwei Werke aus der Abteilung Bekenntnismusik auf dem Programm. Obwohl sie historisch nur wenige Jahre trennen – Bergs Werk entstand 1935, das von Schostakowitsch 1943 – gehören sie ästhetisch dennoch verschiedenen Welten an. In Bergs Konzert, gemäß den Prinzipien der Zweiten Wiener Schule zwölftönig komponiert, ist das Hintergrundrauschen der Spätromantik in Form subjektiver Expressivität, die auch mal sinnlich sein darf, noch deutlich wahrzunehmen. Bei Schostakowitsch dagegen ist von Romantik nichts mehr zu spüren: mag die Sinfonie auch der Dur-Moll-Tonalität verhaftet bleiben, so artikuliert sich hier ein in die Moderne geworfenes Individuum in all seiner Verzweiflung. Mit Klängen, die vor allem wahr, aber nicht mehr schön sein wollen.
Für das Berg-Konzert hatte Currentzis die Geigerin Vilde Frang eingeladen – eine Idealbesetzung, denn die norwegische Geigerin kann nicht nur von ihrer Erscheinung her wie eine Projektion jenes Engels gelten, der früh verstorbenen Manon Gropius, dem Alban Berg im Untertitel sein Werk gewidmet hat. Vor allem fügte sich ihr feinnerviges, jeder Nuance nachspürendes Spiel perfekt ein in das kammermusikalisch orientierte Klangbild, mit dem Berg sein Requiem entwarf.
Und wenn am Ende, nach dem versöhnenden Bach-Choral, die Seele des Mädchens in Form eines hohen Tons der Solovioline in himmlische Sphären entschwebte, so holte Currentzis die Hörer nach der Pause mit dem Beginn von Schostakowitschs Achter wieder auf den Boden zurück. Gleich die ersten Töne der tiefen Streicher setzten den Grundton als klingende Ausrufezeichen: hier wird Dringliches verhandelt. Schostakowitsch schrieb seine Achte unter dem Eindruck der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs als schonungslose, nur ab und zu von Inseln der Glücksverheißung unterbrochene Darstellung des Grauens. Die überwältigende Wirkung dieses Werks im Großen verdankte Currentzis seiner akribisch genauen Gestaltung im Kleinen, einer messerscharfen, vom Orchester großartig umgesetzten Charakterisierung jeder Phrase in ihrem Ausdrucksgehalt, die die Hörer im voll besetzen Beethovensaal in permanenter Spannung hielt und am Ende zu Ovationen hinriss.
Und auch wenn, wie der SWR betont, das Programm schon vor Beginn des Ukrainekriegs feststand – wer will, kann diese Aufführung auch als verdecktes politisches Statement des derzeit wegen seiner Russlandbeziehungen stark umstrittenen Currentzis deuten: als Anklage des Kriegs in Zeiten des Kriegs.

Der Opernstar als Diseuse

16.
Jan.
2023

Maria Theresa Ullrich und Walter Sittler in der Staatsgalerie

„Glitzer und Gift der 20er Jahre“ – so heißt die erfolgreiche Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart mit Bildern, die George Grosz in Berlin gemalt hat. Grosz blickt darin hinter die Fassade der sogenannten Goldenen Zwanziger, in denen zwar die Kunst Konjunktur hatte, aber eben auch Ausbeutung und Verbrechen blühten. Musikalisch ist uns diese Zeit vor allem durch Lieder von Komponisten wie Kurt Weill oder Friedrich Hollaender präsent, und so lag es nahe, dass die Internationale Hugo-Wolf-Akademie den ersten Liederabend dieses Jahres im Kontext der Grosz-Ausstellung im restlos ausverkauften Vortragssaal der Staatsgalerie veranstaltet hat. Dazu hatte sie neben der Sopranistin Maria Theresa Ullrich und dem Pianisten Nicholas Kok auch den Schauspieler Walter Sittler eingeladen, der Auszüge aus Erich Kästners Roman „Fabian“ las – unter anderem die apokalyptische Traumsequenz aus dem vierzehnten Kapitel, die in der Drastik, mit der hier menschliche Abgründe geschildert werden, wie eine literarische Entsprechung zu Grosz` bildnerischem Schaffen wirkt. Ansonsten erscheint Kästners zeitdiagnostischer Scharfblick gemildert durch einen heiter-satirischen Tonfall – manchmal ist das Leben eben nur mit Humor auszuhalten, und wie Maria Theresa Ullrich dieser Ambivalenz, die sich auch in vielen Liedern der 20er Jahre findet, sängerisch Ausdruck verlieh, war schlichtweg grandios. Für eine Opernsängerin nämlich – Ullrich ist Ensemblemitglied an der benachbarten Staatsoper – können Chansons und Couplets wie Edmund Nicks „Die Barfrau“ oder Kurt Weills „Der Abschiedsbrief“ durchaus Herausforderungen darstellen: nicht jeder Opernstar ist eine Diseuse.
Doch Ullrich kann es. Im langen grünen, mittels Accessoires mal dezent auf mondän, dann auf verrucht getrimmten Kleid changierte sie virtuos zwischen Deklamation und Gesang und ließ, wenn es passte, ihrem volltönenden Mezzo auch mal freien Lauf. Auch was Körpersprache und Gestik anbelangt, stimmte da alles: hinreißend der Unschuldsblick, den sie Walter Sittler zu den Worten „Ich bin doch zu schade für einen allein“ in Hollaenders berühmtem Chanson „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“ zuwarf. In seiner dramaturgischen Stimmigkeit und Professionalität – auch Ullrichs Ehemann Nicholas Kok trug als versierter Begleiter seinen Teil dazu bei – war das ein Auftritt, der, das kann man ohne Übertreibung sagen, auch größeren Bühnen zur Ehre gereichen würde. Vielleicht ja mal in der Staatsoper?

Kunstvoll unperfekt

02.
Jan.
2023

Erika Stucky performte im Theaterhaus

Erika Stucky ist Kult. Zum zehnten Mal in Folge hat sie nun an Neujahr die Veranstaltungssaison im Stuttgarter Theaterhaus eröffnet – ob es im Publikum welche gibt, fragt sie zu Beginn ins voll besetzte T2, die jedes Jahr dabei waren? Einige melden sich. Fünf Mal? Vielstimmiges Johlen. Zum ersten Mal? Auch ein paar.
In der Regel wissen die Besucher also, was sie an einem Stucky-Abend erwartet. Und insofern dürfte sich auch kaum einer gewundert haben, dass sich zunächst der Schlagzeuger Nelson Schaer auf den Boden setzt und mit seinen Drumsticks ausführlich leere Farbeimer bearbeitet. Nach einer Weile gesellt sich der Multiinstrumentalist Terry Edwards dazu und repetiert stoisch ein Riff auf den tiefen Saiten seiner E-Gitarre, ehe Erika Stucky, dezent rustikal im grünen Wollkleid, den ersten Song intoniert: „Why don´t we do it in the road?“. Ein früher Titel der Beatles, der damit auch das Stichwort liefert für den „Stuckys Roadshow“ überschriebenen Abend, denn ja – on the road war und ist die 1962 als Kind Schweizer Hippies in San Francisco geborene und in den 70er Jahren wieder in die eidgenössische Heimat zurückgekehrte Stucky ja wirklich, und so ist auch dieser Abend ein ziemlich wilder, multimedialer Trip durch Epochen, Länder und Landschaften. Auf den Bühnenhintergrund projizierte, erlesen vergrisselte Videos und Fotos zeigen die Performerin dabei in diversen Settings: mal tanzend auf dem Markusplatz in Venedig, mal glitzerfolienschwenkend vor Bergkulissen, und auch die musikalische Ebene entspricht dieser Ästhetik des kunstvoll Unperfekten. Denn was sie auch singt, ob Stevie Wonders „Superstition“, „Black Betty“ von Ram Jam oder Selbstkomponiertes wie den Kakerlakensong „Roach Hotel“, eine Anspielung auf das legendäre Chelsea Hotel – alles ist getragen von jener dezent trashigen Aura, die – Tom Waits lässt grüßen – Dilettantismus als Ausdruck von Authentizität adelt. Ihr selbst reicht dazu ein kleines Akkordeon zur Begleitung, dazu hat sie Musiker wie Terry Edwards, der sich nicht zu schade ist, auf Minitrompete und Billigsaxofon minutenlang Belanglosigkeiten zu dudeln.
Am Ende, nach allerhand bizarren und lustigen Geschichten, Jodeln und schrägen Songs, wird es gar funeral. „He´s watching me“ singt Erika Stucky, während der Film zeigt, wie sie durch einen Friedhof geht und sich dort auf Gräber legt. Meint sie´s ernst? Oder ist das bloß wieder ironische Anverwandlung? Die Zugabe, der böse „Hundehassersong“, lässt Letzteres vermuten.

Werbung für die britische Musik

01.
Jan.
2023

Dass der Jazzklarinettist Benny Goodman Anfang der 1940er Jahre Benjamin Britten um die Komposition eines Klarinettenkonzerts bat, verwundert nicht. Britten galt schon damals als einer der führenden Komponisten seiner Zeit, gerade seine Solokonzerte zählen zu den Meisterwerken ihrer Gattungen. Dass aus dem Konzert nichts wurde, ist den Umständen des Krieges geschuldet – immerhin aber überdauerte der Entwurf zum ersten Satz, der erst 1989 von Colin Matthews vollendet und durch Bearbeitungen zweier weiterer Britten-Werke ergänzt wurde. Die Erkenntnis, dass dieses Stück eine veritable Ergänzung des Repertoires ist, ist auch dem Klarinettisten Sebastian Manz zu verdanken, das das Werk nun beim Silvesterkonzert mit dem SWR Symphonieorchester im Stuttgarter Beethovensaal aufgeführt hat. Vor allem im ersten Satz kann dabei die Klarinette ihr gesamtes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten zeigen: weitgespannte, ab und an durch Glissandi und dirty tones angereicherte Kantilenen, virtuose Figurationen und Akkordbrechungen, alles integriert in einen vielfarbigen, die Soloklarinette niemals überlagernden Orchestersatz. Manz, selbst Soloklarinettist des Orchesters, spielte das mit der ihm eigenen musikantischen Emphase, technisch brillant und dabei kein Risiko scheuend – da gab es sogar Applaus zwischen den Sätzen aus dem erfreulich gut besetzten Saal. Und am Ende, zusammen mit Manz´ Kollegen Dirk Altmann, gar eine Zugabe: den 3. Satz aus Poulencs Sonate für zwei Klarinetten.
Auch das restliche Programm bestand aus Werken britischer Komponisten, die, aus welchen Gründen auch immer, hierzulande immer noch unterrepräsentiert sind. Neben Britten gilt dies vor allem für Ralph Vaughan Williams. Roger Norrington hatte sich einst als Chefdirigent des SWR-Orchesters für ihn stark gemacht hat, und auch seine „Serenade to Music“ darf als Ausweis seiner Qualitäten als Symphoniker gelten.
Dass dieser Abend insgesamt eine Werbung für die britische Musik war, wie sie eindrücklicher kaum hätte sein können, lag an dem perfekt disponierten Orchester, aber auch am Dirigenten Andrew Manze. Neben zweier Adaptionen für Streicher von Werken Henry Purcells war es vor allem seine überwältigende Realisierung von Edward Elgars grandiosen „Enigma-Variationen“, die am Ende des Konzert für jene Ovationen sorgte, die von der famos hingelegten Zugabe nochmals angefeuert wurde: Elgars March No. 1 „Pomp and Circumstance“. Was auch sonst?