Werbung für die britische Musik

01.
Jan.
2023

Dass der Jazzklarinettist Benny Goodman Anfang der 1940er Jahre Benjamin Britten um die Komposition eines Klarinettenkonzerts bat, verwundert nicht. Britten galt schon damals als einer der führenden Komponisten seiner Zeit, gerade seine Solokonzerte zählen zu den Meisterwerken ihrer Gattungen. Dass aus dem Konzert nichts wurde, ist den Umständen des Krieges geschuldet – immerhin aber überdauerte der Entwurf zum ersten Satz, der erst 1989 von Colin Matthews vollendet und durch Bearbeitungen zweier weiterer Britten-Werke ergänzt wurde. Die Erkenntnis, dass dieses Stück eine veritable Ergänzung des Repertoires ist, ist auch dem Klarinettisten Sebastian Manz zu verdanken, das das Werk nun beim Silvesterkonzert mit dem SWR Symphonieorchester im Stuttgarter Beethovensaal aufgeführt hat. Vor allem im ersten Satz kann dabei die Klarinette ihr gesamtes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten zeigen: weitgespannte, ab und an durch Glissandi und dirty tones angereicherte Kantilenen, virtuose Figurationen und Akkordbrechungen, alles integriert in einen vielfarbigen, die Soloklarinette niemals überlagernden Orchestersatz. Manz, selbst Soloklarinettist des Orchesters, spielte das mit der ihm eigenen musikantischen Emphase, technisch brillant und dabei kein Risiko scheuend – da gab es sogar Applaus zwischen den Sätzen aus dem erfreulich gut besetzten Saal. Und am Ende, zusammen mit Manz´ Kollegen Dirk Altmann, gar eine Zugabe: den 3. Satz aus Poulencs Sonate für zwei Klarinetten.
Auch das restliche Programm bestand aus Werken britischer Komponisten, die, aus welchen Gründen auch immer, hierzulande immer noch unterrepräsentiert sind. Neben Britten gilt dies vor allem für Ralph Vaughan Williams. Roger Norrington hatte sich einst als Chefdirigent des SWR-Orchesters für ihn stark gemacht hat, und auch seine „Serenade to Music“ darf als Ausweis seiner Qualitäten als Symphoniker gelten.
Dass dieser Abend insgesamt eine Werbung für die britische Musik war, wie sie eindrücklicher kaum hätte sein können, lag an dem perfekt disponierten Orchester, aber auch am Dirigenten Andrew Manze. Neben zweier Adaptionen für Streicher von Werken Henry Purcells war es vor allem seine überwältigende Realisierung von Edward Elgars grandiosen „Enigma-Variationen“, die am Ende des Konzert für jene Ovationen sorgte, die von der famos hingelegten Zugabe nochmals angefeuert wurde: Elgars March No. 1 „Pomp and Circumstance“. Was auch sonst?

Weihnachtsstimmung garantiert

22.
Dez.
2022

Das Konzert des Freiburger Barockorchesters im Mozartsaal

Woran´s bloß liegt, dass zur Erzeugung weihnachtlicher Gemütszustände meist Barockmusik gewählt wird? Möglicherweise steckt ja eine Art akustisches Framing dahinter: das riesige Repertoire an Weihnachtsmusiken aus dieser Zeit, angeführt von Bachs „Weihnachtsoratorium“, könnte dazu geführt haben, dass wir allein durch Cembaloglitzern oder Truhenorgelgesäusel in Verbindung mit winterlicher Witterung in besinnliche Festtagstimmung geraten.
Weihnachtskonzerte ohne Barockmusik jedenfalls sind selten. Und das war auch beim Konzert des Freiburger Barockorchesters mit Werken von J.S. Bach und Johann Kuhnau im gut besetzten Mozartsaal so. Kuhnau? Der dürfte wohl vor allem Pianisten ein Begriff sein. „Frische Clavier-Früchte“ überschrieb Kuhnau eine seiner Sonatensammlungen, und in vielen Sammelbänden und Klavierschulen finden sich Werke aus seiner Feder. Die Kirchenmusik von Bachs Vorgänger als Leipziger Thomaskantor, der auch als Wissenschaftler und Verfasser satirischer Romane berühmt war, ist heute freilich nur wenig bekannt. Zwar komponierte Kuhnau, wie später auch Bach, die Musik für Gottesdienste und kirchliche Feiertage überwiegend selbst. Doch zum einen ist davon wenig erhalten, zum anderen ist seine Autorschaft bei vielen der überlieferten Abschriften nicht gesichert.
Dazu zählt auch die Weihnachtskantate „Uns ist ein Kind geboren“, mit denen das FBO sein Konzert eröffnete. Ein apart instrumentiertes und in seiner Anlage auf italienische Einflüsse verweisendes Werk, das eine Zeitlang dem großen J.S. Bach zugeschrieben wurde. Dass es sich – von wem immer es auch stammen mag – auf jeden Fall um eine barocke Preziose handelt, zeigte das FBO auf eindringliche Weise. Dessen Qualitäten sind ja hinlänglich bekannt, und mit dem Chor Vox Luminis hat es sich einen Partner ausgesucht, das seiner instrumentalen Kompetenz auch in vokaler Hinsicht entspricht. Das von Lionel Meunier handverlesene Ensemble verfügt dabei über jene Homogenität und Transparenz, die auch den Orchesterklang auszeichnen, und da die Instrumente nach Kräften sprachaffin artikulierten, entstand hier ein Klangbild, das in puncto Beweglichkeit und Differenziertheit des Ausdrucks seinesgleichen sucht. Dass die aus dem Chor rekrutierten Solisten nicht alle auf demselben Niveau sangen, war da ebenso zu verschmerzen sein wie der Umstand, dass in größer besetzen Werke wie Kuhnaus Magnificat C-Dur, vor allem aber in Bachs Magnificat Es-Dur BWV 243a das quasi dirigentenlose Musizieren mitunter an seine Grenzen kam. Zwar strahlte der von der zentral platzierten Continuogruppe ausgegebene Puls bis in die Peripherie aus, auch der selbst mitsingende Lionel Meunier hatte seine neben ihm gruppierten Sänger immer im Blick. Rhythmisch freilich blieb hie und da schon mal was im Ungefähren und auch was die klangliche Austarierung anbelangt  – die trockene Akustik des Mozartsaals tat das Ihrige dazu – stellten sich mitunter leichte Disbalancen ein. Vorweihnachtliche Stimmung war jedenfalls, zumal nach der betörend schön musizierten Zugabe, garantiert: „Dona nobis pacem“ aus Bachs Messe h-Moll.

Loderndes Feuer

29.
Nov.
2022

Martha Argerich und Mischa Maisky haben in der Meisterpianistenreihe gespielt

Lange Schlangen vor den Ticketkassen, noch kurz vor Konzertbeginn – das ist eher selten geworden in der Liederhalle. Allerdings war an diesem Abend in der Meisterpianistenreihe auch eine Legende angekündigt: Martha Argerich. Die 81 Jahre alte Argentinierin ist zusammen mit Maurizio Pollini und Daniel Barenboim eine der letzten noch aktiven Vertreterinnen einer großen Pianistengeneration, und, das lässt sich nach diesem Abend konstatieren, wahrscheinlich die pianistisch fitteste von allen. Zwar hatte sie nicht solo gespielt – ihre Vorliebe für Kammermusik ist seit vielen Jahren bekannt – sondern mit dem Cellisten Mischa Maisky einen ihrer langjährigen Weggefährten mitgebracht. Die mitunter fast lakonisch wirkende Leichtigkeit, mit der sie die pianistisch durchaus anspruchsvollen Klavierparts der Sonaten von Beethoven, Debussy und Chopin quasi aus dem Ärmel schüttelte, war dennoch verblüffend. Technisch ist noch alles da: die Flexibilität im Handgelenk, mit der sie rasiermesserscharfe Oktavengänge stanzt, die fabelhafte Anschlagspräzision, und dann dieses stupende Klangbewusstsein, mit dem sie dem Steinway ein Riesenspektrum an Farben entlockt. Getragen ist dies alles von einem im Inneren lodernden Feuer, das allerdings, im Gegensatz zum Temperament von Mischa Maisky, ein eher kühles ist: mögen auch beide im Grunde romantische Musikerseelen sein, so neigt Maisky mit seinem monochrom sonoren, von Dauervibrato energisierten Celloton doch zum expressiven Schwärmen. Leicht könnte er dann seiner Neigung zum Überphrasieren erliegen, der Argerich mit ihrer rhythmischen Klarheit und formalen Stringenz aber erfolgreich entgegenwirkte. Und so ergänzten sich beide formidabel. Beethovens Sonate g-Moll op. 5/2 war von dramatischem Furor belebt, eher romantisch denn klassisch, Debussys Sonate d-Moll durchzogen von atmosphärischem Zauber. Und in Chopins groß angelegter Sonate g-Moll op. 65 waren dann beide in ihrem Element: das altmodische Wort „Grandezza“ fällt einem ein, um diese Mischung aus Souveränität, Eleganz und Leidenschaft zu charakterisieren, die im Finale in einer grandios angelegten Steigerung kulminierte. Als sie dann am Ende händchenhaltend die Ovationen entgegennahmen wirkten sie ein bisschen wie ein altes Ehepaar – das freilich noch genügend Energie für vier Zugaben hatte: Chopins Polonaise brillante op. 3, Brahms´ Lerchengesang, Schumanns Fantasiestück op. 73 No. 1 und Kreislers „Liebesleid“.

Kriegsszenen in der Sandgrube

20.
Nov.
2022

Die Stuttgarter Philharmoniker spielten die Filmmusik zu „Das Weib des Pharao“

Ein Stoff, wie geschaffen für einen Monumentalfilm: ein betagter ägyptischer Pharao verliebt sich ausgerechnet in eine Sklavin seines äthiopischen Widersachers, die allerdings den jungen Ramphis liebt. Den will der Pharao zunächst umbringen lassen, begnadigt ihn dann aber doch, nachdem ihm die Sklavin die Ehe verspricht. Am Ende wird alles schlecht: das Liebespaar kommt zusammen, wird aber vom Volk gesteinigt, nachdem der im Krieg totgeglaubte Pharao zunächst zurückkehrt, dann aber ebenfalls stirbt.

Für den den Regisseur Ernst Lubitsch sollte „Das Weib des Pharao“ die Eintrittskarte nach Hollywood sein, und tatsächlich fand die Uraufführung 1922 in New York statt. Allerdings bevorzugten die Amerikaner schon damals Happy Ends, und so ließ man dort den kompletten 6. Akt mit dem dramatischen Finale einfach weg. Gedreht hatte Lubitsch mit Emil Jannings als Pharao in den Berliner Filmstudio, die Kriegsszene zwischen Ägyptern und Äthiopiern stellte man mit Massen von Komparsen in einer märkischen Sandgrube nach.

Nachdem der Film lange Zeit nur in unvollständigen Kopien zu sehen war, wurde er Anfang der 2000er Jahre digital restauriert und 2011 zusammen mit der Originalmusik von Eduard Künneke erstmals in Berlin gezeigt. Die musikalische Einrichtung übernahm damals Frank Strobel, und der hatte nun auch die Stuttgarter Philharmoniker dirigiert, die innerhalb ihres Zyklus „Die Große Reihe“ Lubitschs Film begleiteten. Und das war ein Erlebnis, denn Künneke hat für die Filmmusik alle Register gezogen: farbig instrumentiert und mit allerhand orientalischem Kolorit angereichert, wird das große Orchester hier effektvoll eingesetzt. Auch die durchaus heikle Synchronisierung der Musik mit der Filmspur gelang passgenau.

Interessant aus der historischen Distanz erscheint uns die Ästhetik des Stummfilms: das Fehlen von gesprochenen Dialogen wurde in einem Maß durch Mimik und Gestik ausgeglichen, das uns heute übertrieben vorkommen kann. Zöge das theatralische Grimassieren, mit dem der Pharao seine Zerknirschung ausdrückt, heute das Etikett „Chargieren“ nach, so galt es vor hundert Jahren, als das Kino noch weit davon entfernt war, so etwas wie Realität imaginieren zu können, als legitimes Kunstmittel. Eine Geschichte allein durch Bilder und einige Zwischentexte spannend und so zu erzählen, dass sie jeder versteht: darum ging es. Und das, so zeigte dieser Abend, war Lubitsch gelungen.

Frank Armbruster

Der Klavierabend von Seong-Jin Cho in Stuttgart

10.
Nov.
2022

Der Gewinn des Chopin-Wettbewerbs 2015 war der Durchbruch für Seong-Jin Cho. In Südkorea, wo klassische Musik boomt, gilt er längst als Superstar, gut gebucht könnte er sich auf die Reißer des Repertoires konzentrieren und damit die Konzerthallen füllen. Aber das will er nicht. Stattdessen, das hat sein Klavierrecital im Rahmen der Meisterpianistenreihe im Beethovensaal gezeigt, liegt ihm daran, seinen ästhetischen Horizont zu erweitern und ein großer Pianist zu werden. Dazu gehört auch die Kompetenz auch für weniger populäres Repertoire: etwa die Klaviersuiten von Händel, von denen er die dritte und fünfte ausgesucht hat. Luzide, fein gesponnene Musik, die Seong-Jin Cho ohne Pedal und mit großer Variabilität in der Ausgestaltung der Linienführung spielt, mit federleicht hingeworfenen Trillern und Verzierungen und vielfältigen dynamischen Abstufungen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.
Dramaturgisch passend folgen danach die Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op.24, ein kraftstrotzendes Werk des jungen Brahms, in dem sich Cho als Ausdrucksmusiker par excellence präsentiert: akribisch und mit enormer pianistischer Kompetenz zeichnet er die Fieberkurven dieses Werks nach und findet für jede motivische Verwandlung neue klangliche Facetten. Klavierspiel auf der sprichwörtlichen Stuhlkante, das sich auch nach der Pause in Schumanns späten Fantasiestücken op. 111 und vor allem in den Sinfonischen Etüden op.13 triumphal fortsetzt. Schumanns fantastische, zwischen poetischer Versenkung und leidenschaftlicher Extrovertiertheit irrlichternde Welt kommt Seong-Jin Cho offenbar entgegen, der sich bis zum Finale dann fast in einen Rausch spielt: Anlass für einige Zuhörer im leider nur schwach besetzten Beethovensaal, aufzuspringen und stehend zu applaudieren. Die erste Zugabe, die Bearbeitung eines händelschen Menuetts von Wilhelm Kempff, schließt wieder den Bogen zum Beginn des Konzerts, und mit Chopins Polonaise Nr. 6 As-Dur lässt Cho den Abend mit einem Feuerwerk enden.

Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit

07.
Nov.
2022

Frieder Bernius mit dem Brahms-Requiem im Hegelsaal

Trost kann man gut gebrauchen in diesen Zeiten. „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, singt da der Chor im fünften Satz von Brahms´ „Ein Deutsches Requiem“, und das ist nur eine der vielen Stellen in diesem Werk, die den Hörer tief im Herzen berühren. Berühren können, sollte man vielleicht besser sagen – denn die geniale musikalische Dramaturgie, mit der Brahms hier Texte aus Altem und Neuem Testament zu einer zutiefst humanen Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit verbunden hat, erfordert auch eine adäquate musikalische Umsetzung. Und die war an diesem Sonntagabend auf ideale Weise gegeben.
Frieder Bernius hatte dazu seinen Kammerchor Stuttgart und die Klassische Philharmonie Stuttgart nebst zwei Solisten im zwar nicht ausverkauften, aber doch sehr gut gefüllten Hegelsaal versammelt. Mit Brahms´ Schicksalslied op. 54 hatte Bernius dem Requiem noch ein weniger bekanntes, thematisch passendes Stück vorangestellt, das die Qualitäten seiner Ensembles gleich ins rechte Licht rückte: ein klar fokussierter, klanglich bis ins Detail durchstrukturierter und mit den Orchesterfarben zu einem perfekten Amalgam verbundener Chorklang.
Dem eher resignativen Fazit des auf einen Text von Hölderlin komponierten Schicksalslieds folgte dann mit dem ersten Satz des Requiems die Wendung ins Hoffnungsvolle: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ heißt es da, und von Beginn an nahm Bernius den Hörer gleichsam an die kurze Leine: mitunter ruhig, aber niemals schleppend und durchweg stringent phrasierend formte Bernius die einzelnen Sätze zu einem geschlossenen Ganzen und fand dabei das rechte Maß zwischen romantischem Ausdruck und Bewusstsein für Brahms´ Rückgriff auf alte Formen. Ein gutes Händchen bewies er auch mit der Auswahl der Solisten: Arttu Kataja gestaltete seine Baritonsoli ungemein souverän, und auch Johanna Winkel bewältigte ihre zwar kurze, aber dafür technisch heikle Sopranpartie mit großer Intensität. Ein denkwürdiger Abend.

Mao Fujita spielt Mozart

05.
Nov.
2022

Mozarts Klaviersonaten zählen nicht unbedingt zu den bevorzugten Stücken junger Pianisten. Technisch gelten sie als eher leichtgewichtig: wenn schon klassisch, dann doch lieber eine Beethovensonate. Der 23-jährige Japaner Mao Fujita freilich wählte für sein Programm beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2019 u.a. Mozarts Sonate KV 330 und begeisterte damit Jury und Publikum: Am Ende gewann er den 2. Preis. Warum, das zeigt nun Fujitas Einspielung sämtlicher Mozartsonaten auf eindringliche Weise. Dem technisch eminent beschlagenen Pianisten gelingt dabei das Kunststück, Mozarts Werke im adäquaten stilistischen Rahmen zu interpretieren ohne dabei die klanglichen Möglichkeiten des Steinway zu vernachlässigen. Eine quasi nach innen gerichtete Virtuosität, die sich in einer enorm breiten Palette an dynamischen und artikulatorischen Facetten bei sparsamstem Pedaleinsatz offenbart. Absolut faszinierend.

Mao Fujita. Mozart. The Complete Piano Sonatas. Sony Classical.

Als bliebe die Welt stehen

31.
Okt.
2022

Gaetano Donizettis „L´elisir d´amore“ an der Staatsoper Stuttgart

Ob der Glaube wirklich Berge versetzen kann? In der Heilkunst kann die Überzeugung des Patienten, dass ein verschriebenes Medikament wirkt, erwiesenermaßen zur Genesung beitragen, selbst wenn es sich bei den Pillen bloß um Zuckerkügelchen handelt. Auf diesen sogenannten Placeboeffekt setzt in Gaetano Donizettis Oper „L´elisir d´amore“ auch der Quacksalber Dulcamara, als er dem armen Bauern Nemorino einen Wundertrank verkauft, auf dass dieser endlich die Liebe seiner ersehnten Adina gewinne – was Nemorino, obwohl es sich bei dem Elixier schlicht um Bordeaux handelt, am Ende tatsächlich gelingt.

In Anika Rutkovskys Neuinszenierung des Werks an der Staatsoper Stuttgart nun bewirkt der Glaube an die Möglichkeit von Veränderung noch weitaus mehr: euphorisiert durch das Charisma des wie ein Guru auftretenden Dulcamara beginnen die geknechteten Lohnarbeiter damit, neue Lebensperspektiven für sich zu entwerfen, indem sie ihre normierte Arbeitskluft gegen individuelle Kleidung tauschen  und damit neue Rollen erproben. So wie das Leben war, muss es nicht bleiben. Szenisch entspricht dieser inneren Befreiung die sukzessive Belebung des Bühnenraums durch Pflanzenwachstum. Entsprechend der weitgehenden Industrialisierung der globalen Landwirtschaft hat die Regie das Bauernvolk nämlich in eine Art Labor verlegt, wo merkwürdige, kokosnussartige Früchte gezüchtet werden (Bühne: Uta Gruber-Ballehr). Dies geschieht zunächst in einem quasi sterilen Ambiente, das sich nach dem Auftauchen Dulcamaras dann peu à peu in ein üppig wucherndes Gewächshaus verwandelt, aus dem im zweiten Akt sogar Urwaldgeräusche dringen. Das domestizierte Organische, so kommt es wieder zu seinem Recht. Und selbst im Herzen der zwar aufreizend koketten, doch emotional unterkühlten Laborchefin Adina beginnt sich mit der Zeit etwas zu regen: Dass sich Nemorino, um die Kosten für den Liebestrank aufzubringen, sogar für das Militär verpflichtet hat, lässt schließlich den Damm ihrer gestauten Gefühle brechen. Für das große Duett im Finale findet die Regie ein kongeniales Bild: während Nemorino und Adina ihre Liebe beschwören, bewegen sich die Personen um sie herum quasi in Zeitlupe. Als bliebe die Welt aus Sicht der Liebenden plötzlich stehen.
Noch wichtiger für den durchschlagenden Erfolg am Stuttgarter Premierenabend als das stimmige Regiekonzept waren freilich andere Faktoren. Dazu zählt, dass die Regie den Buffo-Charakter des von Donizetti als „Melodramma“ bezeichneten Stücks ernst genommen hat. Denn diese Oper ist prall gefüllt mit Witz und ironischen Verweisen – und es gibt einiges zu lachen an diesem Abend. Die Komik des Auftritt des großmäuligen Sergeanten Belcore samt Tschingderassa-Militärmarsch etwa wird unterstrichen durch die lächerliche Kostümierung der Soldaten mit kurzen Hosen und weißen Helmen. Für eine andere Art von Witz sorgt der Komponist höchstselbst: Das Pathos der berühmten Romanze Nemorinos „Una furtiva lagrima“ unterminiert Donizetti mit einer näselnden Introduktion des Fagotts in unbequem hoher Lage.
Womit wir bei der musikalischen Umsetzung wären, und die ist über weite Strecken großartig. Das liegt in erster Linie am sehr homogenen Sängerensemble, aus dem der junge Tenor Kai Kluge herausragt. Das Stuttgarter Ensemblemitglied war bisher vor allem in Mozart-Rollen zu hören, beweist aber als Nemorino seine lyrische Exzellenz auch im italienischen Fach. Eine Stimme, die wunderbar auf dem Atem sitzt und dabei zu jener irisierenden Strahlkraft fähig ist, wie man sie bei manchen großen Tenören bewundert. Allein wegen ihm würde sich der Besuch lohnen. Aber da ist ja noch der grandiose Giulio Mastrototaro als Dulcamara, der seine Wortkaskaden in atemberauberender muttersprachlicher Gewandtheit herunterrattert, und auch Björn Bürger als Belcore überzeugt mit profunder baritonaler Eloquenz. Claudia Muschio (Adina) ist ein koloraturensicheres Goldkehlchen, dem es nur in der Mittellage manchmal etwas an Wärme fehlt. Michele Spotti schließlich am Dirigentenpult des Staatsorchesters kitzelt aus diesem den passenden italienischen Klang: schnell, direkt und trocken, mit peitschenden Akzenten und dennoch der richtigen Phrasierungseleganz in den vielen elegischen Kavatinen und Arien. Allenfalls in den großen Ensembleszenen wackelt es noch hie und da. Aber das sollte sich in den kommenden Aufführungen justieren lassen.

Vorsicht: Mikroaggressionen!

23.
Okt.
2022

Matthias Deutschmann im Renitenztheater

Was jetzt noch Ironie ist, könnte bald Realität werden. Er müsse, so der Kabarettist Matthias Deutschmann im Renitenztheater, vorab eine Triggerwarnung aussprechen: Sein Programm „Mephisto Consulting“ enthalte Mikroaggressionen! Sollten ihm überdies im Laufe des Abends Rastalocken wachsen, könne er für daraus resultierende seelische Verletzungen keine Haftung übernehmen. Selbst Schachspielen sei mittlerweile ein Problem: Weiß beginnt – das gehe doch auch nicht mehr. Und mit schwarz zu spielen – ist das nicht kulturelle Aneignung?
Identitätspolitik und Gendersprache („Minderheiten mit Sternen zu markieren, ist das nicht merkwürdig?“) ist aber nur eines der Felder, auf denen das Urgestein des deutschen Kabaretts seine meist treffsicheren Pointen landen lässt. Sowohl geografisch wie historisch misst Deutschmanns satirischer Rundumschlag dabei weite Distanzen aus. In England herrsche ja seit dem Tod der Queen Chaos, doch was halte uns in Deutschland zusammen? Die Rundfunkgebühr! Und der SWR? Der sei eine Pensionskasse mit Sendelizenz. Das mag man hier ebenso ungern hören wie die Berliner den Vorwurf, sie könnten durch die Wiederholung der Wahl die Koalition im Bund platzen lassen. Man wisse ja, was passiert, wenn die Ampel kaputt ist: „Dann gilt: rechts vor links“.
Und auch wenn Deutschmann, der sich zwischendurch immer wieder, im Übrigen sehr gekonnt, ans Cello setzt, die schnelle Pointe nicht verschmäht (“Alle Silben, die Oettinger verschluckt hat, würgt Kretschmann wieder aus…“), so ist er am brillantesten, wenn er sich den großen Themen widmet. Wie der Frage, warum die Spezies Homo sapiens so erfolgreich ist („Die Geilheit ist die Hintergrundstrahlung der Evolution“) oder jener, welcher der vielen Götter wohl letzlich gewinnen wird. Wobei – die Höllen, hier rekurriert er auf den Titel seines Programms, hätten ihn ja schon immer mehr interessiert als die Himmel. Die evangelische Hölle sei dabei vermutlich angenehmer als die katholische: sie werde nämlich nicht geheizt.

Bruce Liu spielte in der Meisterpianistenreihe

19.
Okt.
2022

Passiert auch nicht allzuoft, dass sich ein Großteil des Publikums am Ende erhebt, um dem Pianisten stehend zu applaudieren – doch so, wie Bruce Liu mit der Klavierfantasie Franz Liszts über Mozarts „Don Giovanni“ am Ende seines offiziellen Programms die Zuhörer fast in einen Taumel gespielt hatte, blieb vielen kaum anderes übrig, als hernach begeistert aufzuspringen. Es war der erste Klavierabend der Meisterpianistenreihe, mit dem der Gewinner des letztjährigen Chopin-Wettbewerbs gleich ein dickes Ausrufezeichen setzte. Chopin war auch die erste Hälfte des Programms gewidmet. Das Rondo à la Mazur op. 5 ist ein selten zu hörendes Stück, eher leichtgewichtig in seiner spielerischen Verarbeitung des Mazurkenrhythmus, aber schon mit jenen typischen melodischen Galanterien durchsetzt, die auch viele von Chopins späteren Werken prägen. Schon hier zeigte sich Lius Gespür für das rechte Maß: alles ist agogisch durchgestaltet, aber niemals auch nur die Grenze des Sentimentalen streifend – ebensowenig wie bei den Variationen über „Là ci darem la mano“ op. 2, einem hochvirtuosen, dezent salonesken Showpiece des jungen Chopin, das Liu die Gelegenheit gab, seine hyperpräzise Klaviertechnik ins rechte Licht zu rücken. Dass die Töne des leichthändig hingeworfenen Skalenwerks dabei eher perlmutt schimmerten als silbrig glänzten, war auch dem Klangcharakter des Fazioliflügels zu verdanken: der mag nicht ganz so dynamisch klingen wie die Konkurrenz von Steinway, ermöglicht dem sensiblen Pianisten aber subtilste klangliche Abschattierungen. Und so ließ Liu die fünf Sätze von Maurice Ravels „Miroirs“ in fast orchestral anmutender Klangpracht entstehen, dabei wie ein Maler die Farbschichten in- und übereinanderlegend – ein Meisterstück musikalischer Charakterisierungskunst und zweifellos der Höhepunkt des Abends. Für die Ovationen bedankte sich der sichtlich gerührte Liu mit vier Zugaben: zweimal Rameau, einmal Chopin, und am Ende, zauberisch leicht, Liszts berühmte La campanella-Etüde. STZ