Kriegsszenen in der Sandgrube

20.
Nov.
2022

Die Stuttgarter Philharmoniker spielten die Filmmusik zu „Das Weib des Pharao“

Ein Stoff, wie geschaffen für einen Monumentalfilm: ein betagter ägyptischer Pharao verliebt sich ausgerechnet in eine Sklavin seines äthiopischen Widersachers, die allerdings den jungen Ramphis liebt. Den will der Pharao zunächst umbringen lassen, begnadigt ihn dann aber doch, nachdem ihm die Sklavin die Ehe verspricht. Am Ende wird alles schlecht: das Liebespaar kommt zusammen, wird aber vom Volk gesteinigt, nachdem der im Krieg totgeglaubte Pharao zunächst zurückkehrt, dann aber ebenfalls stirbt.

Für den den Regisseur Ernst Lubitsch sollte „Das Weib des Pharao“ die Eintrittskarte nach Hollywood sein, und tatsächlich fand die Uraufführung 1922 in New York statt. Allerdings bevorzugten die Amerikaner schon damals Happy Ends, und so ließ man dort den kompletten 6. Akt mit dem dramatischen Finale einfach weg. Gedreht hatte Lubitsch mit Emil Jannings als Pharao in den Berliner Filmstudio, die Kriegsszene zwischen Ägyptern und Äthiopiern stellte man mit Massen von Komparsen in einer märkischen Sandgrube nach.

Nachdem der Film lange Zeit nur in unvollständigen Kopien zu sehen war, wurde er Anfang der 2000er Jahre digital restauriert und 2011 zusammen mit der Originalmusik von Eduard Künneke erstmals in Berlin gezeigt. Die musikalische Einrichtung übernahm damals Frank Strobel, und der hatte nun auch die Stuttgarter Philharmoniker dirigiert, die innerhalb ihres Zyklus „Die Große Reihe“ Lubitschs Film begleiteten. Und das war ein Erlebnis, denn Künneke hat für die Filmmusik alle Register gezogen: farbig instrumentiert und mit allerhand orientalischem Kolorit angereichert, wird das große Orchester hier effektvoll eingesetzt. Auch die durchaus heikle Synchronisierung der Musik mit der Filmspur gelang passgenau.

Interessant aus der historischen Distanz erscheint uns die Ästhetik des Stummfilms: das Fehlen von gesprochenen Dialogen wurde in einem Maß durch Mimik und Gestik ausgeglichen, das uns heute übertrieben vorkommen kann. Zöge das theatralische Grimassieren, mit dem der Pharao seine Zerknirschung ausdrückt, heute das Etikett „Chargieren“ nach, so galt es vor hundert Jahren, als das Kino noch weit davon entfernt war, so etwas wie Realität imaginieren zu können, als legitimes Kunstmittel. Eine Geschichte allein durch Bilder und einige Zwischentexte spannend und so zu erzählen, dass sie jeder versteht: darum ging es. Und das, so zeigte dieser Abend, war Lubitsch gelungen.

Frank Armbruster

Der Klavierabend von Seong-Jin Cho in Stuttgart

10.
Nov.
2022

Der Gewinn des Chopin-Wettbewerbs 2015 war der Durchbruch für Seong-Jin Cho. In Südkorea, wo klassische Musik boomt, gilt er längst als Superstar, gut gebucht könnte er sich auf die Reißer des Repertoires konzentrieren und damit die Konzerthallen füllen. Aber das will er nicht. Stattdessen, das hat sein Klavierrecital im Rahmen der Meisterpianistenreihe im Beethovensaal gezeigt, liegt ihm daran, seinen ästhetischen Horizont zu erweitern und ein großer Pianist zu werden. Dazu gehört auch die Kompetenz auch für weniger populäres Repertoire: etwa die Klaviersuiten von Händel, von denen er die dritte und fünfte ausgesucht hat. Luzide, fein gesponnene Musik, die Seong-Jin Cho ohne Pedal und mit großer Variabilität in der Ausgestaltung der Linienführung spielt, mit federleicht hingeworfenen Trillern und Verzierungen und vielfältigen dynamischen Abstufungen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.
Dramaturgisch passend folgen danach die Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op.24, ein kraftstrotzendes Werk des jungen Brahms, in dem sich Cho als Ausdrucksmusiker par excellence präsentiert: akribisch und mit enormer pianistischer Kompetenz zeichnet er die Fieberkurven dieses Werks nach und findet für jede motivische Verwandlung neue klangliche Facetten. Klavierspiel auf der sprichwörtlichen Stuhlkante, das sich auch nach der Pause in Schumanns späten Fantasiestücken op. 111 und vor allem in den Sinfonischen Etüden op.13 triumphal fortsetzt. Schumanns fantastische, zwischen poetischer Versenkung und leidenschaftlicher Extrovertiertheit irrlichternde Welt kommt Seong-Jin Cho offenbar entgegen, der sich bis zum Finale dann fast in einen Rausch spielt: Anlass für einige Zuhörer im leider nur schwach besetzten Beethovensaal, aufzuspringen und stehend zu applaudieren. Die erste Zugabe, die Bearbeitung eines händelschen Menuetts von Wilhelm Kempff, schließt wieder den Bogen zum Beginn des Konzerts, und mit Chopins Polonaise Nr. 6 As-Dur lässt Cho den Abend mit einem Feuerwerk enden.

Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit

07.
Nov.
2022

Frieder Bernius mit dem Brahms-Requiem im Hegelsaal

Trost kann man gut gebrauchen in diesen Zeiten. „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, singt da der Chor im fünften Satz von Brahms´ „Ein Deutsches Requiem“, und das ist nur eine der vielen Stellen in diesem Werk, die den Hörer tief im Herzen berühren. Berühren können, sollte man vielleicht besser sagen – denn die geniale musikalische Dramaturgie, mit der Brahms hier Texte aus Altem und Neuem Testament zu einer zutiefst humanen Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit verbunden hat, erfordert auch eine adäquate musikalische Umsetzung. Und die war an diesem Sonntagabend auf ideale Weise gegeben.
Frieder Bernius hatte dazu seinen Kammerchor Stuttgart und die Klassische Philharmonie Stuttgart nebst zwei Solisten im zwar nicht ausverkauften, aber doch sehr gut gefüllten Hegelsaal versammelt. Mit Brahms´ Schicksalslied op. 54 hatte Bernius dem Requiem noch ein weniger bekanntes, thematisch passendes Stück vorangestellt, das die Qualitäten seiner Ensembles gleich ins rechte Licht rückte: ein klar fokussierter, klanglich bis ins Detail durchstrukturierter und mit den Orchesterfarben zu einem perfekten Amalgam verbundener Chorklang.
Dem eher resignativen Fazit des auf einen Text von Hölderlin komponierten Schicksalslieds folgte dann mit dem ersten Satz des Requiems die Wendung ins Hoffnungsvolle: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ heißt es da, und von Beginn an nahm Bernius den Hörer gleichsam an die kurze Leine: mitunter ruhig, aber niemals schleppend und durchweg stringent phrasierend formte Bernius die einzelnen Sätze zu einem geschlossenen Ganzen und fand dabei das rechte Maß zwischen romantischem Ausdruck und Bewusstsein für Brahms´ Rückgriff auf alte Formen. Ein gutes Händchen bewies er auch mit der Auswahl der Solisten: Arttu Kataja gestaltete seine Baritonsoli ungemein souverän, und auch Johanna Winkel bewältigte ihre zwar kurze, aber dafür technisch heikle Sopranpartie mit großer Intensität. Ein denkwürdiger Abend.

Mao Fujita spielt Mozart

05.
Nov.
2022

Mozarts Klaviersonaten zählen nicht unbedingt zu den bevorzugten Stücken junger Pianisten. Technisch gelten sie als eher leichtgewichtig: wenn schon klassisch, dann doch lieber eine Beethovensonate. Der 23-jährige Japaner Mao Fujita freilich wählte für sein Programm beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2019 u.a. Mozarts Sonate KV 330 und begeisterte damit Jury und Publikum: Am Ende gewann er den 2. Preis. Warum, das zeigt nun Fujitas Einspielung sämtlicher Mozartsonaten auf eindringliche Weise. Dem technisch eminent beschlagenen Pianisten gelingt dabei das Kunststück, Mozarts Werke im adäquaten stilistischen Rahmen zu interpretieren ohne dabei die klanglichen Möglichkeiten des Steinway zu vernachlässigen. Eine quasi nach innen gerichtete Virtuosität, die sich in einer enorm breiten Palette an dynamischen und artikulatorischen Facetten bei sparsamstem Pedaleinsatz offenbart. Absolut faszinierend.

Mao Fujita. Mozart. The Complete Piano Sonatas. Sony Classical.

Als bliebe die Welt stehen

31.
Okt.
2022

Gaetano Donizettis „L´elisir d´amore“ an der Staatsoper Stuttgart

Ob der Glaube wirklich Berge versetzen kann? In der Heilkunst kann die Überzeugung des Patienten, dass ein verschriebenes Medikament wirkt, erwiesenermaßen zur Genesung beitragen, selbst wenn es sich bei den Pillen bloß um Zuckerkügelchen handelt. Auf diesen sogenannten Placeboeffekt setzt in Gaetano Donizettis Oper „L´elisir d´amore“ auch der Quacksalber Dulcamara, als er dem armen Bauern Nemorino einen Wundertrank verkauft, auf dass dieser endlich die Liebe seiner ersehnten Adina gewinne – was Nemorino, obwohl es sich bei dem Elixier schlicht um Bordeaux handelt, am Ende tatsächlich gelingt.

In Anika Rutkovskys Neuinszenierung des Werks an der Staatsoper Stuttgart nun bewirkt der Glaube an die Möglichkeit von Veränderung noch weitaus mehr: euphorisiert durch das Charisma des wie ein Guru auftretenden Dulcamara beginnen die geknechteten Lohnarbeiter damit, neue Lebensperspektiven für sich zu entwerfen, indem sie ihre normierte Arbeitskluft gegen individuelle Kleidung tauschen  und damit neue Rollen erproben. So wie das Leben war, muss es nicht bleiben. Szenisch entspricht dieser inneren Befreiung die sukzessive Belebung des Bühnenraums durch Pflanzenwachstum. Entsprechend der weitgehenden Industrialisierung der globalen Landwirtschaft hat die Regie das Bauernvolk nämlich in eine Art Labor verlegt, wo merkwürdige, kokosnussartige Früchte gezüchtet werden (Bühne: Uta Gruber-Ballehr). Dies geschieht zunächst in einem quasi sterilen Ambiente, das sich nach dem Auftauchen Dulcamaras dann peu à peu in ein üppig wucherndes Gewächshaus verwandelt, aus dem im zweiten Akt sogar Urwaldgeräusche dringen. Das domestizierte Organische, so kommt es wieder zu seinem Recht. Und selbst im Herzen der zwar aufreizend koketten, doch emotional unterkühlten Laborchefin Adina beginnt sich mit der Zeit etwas zu regen: Dass sich Nemorino, um die Kosten für den Liebestrank aufzubringen, sogar für das Militär verpflichtet hat, lässt schließlich den Damm ihrer gestauten Gefühle brechen. Für das große Duett im Finale findet die Regie ein kongeniales Bild: während Nemorino und Adina ihre Liebe beschwören, bewegen sich die Personen um sie herum quasi in Zeitlupe. Als bliebe die Welt aus Sicht der Liebenden plötzlich stehen.
Noch wichtiger für den durchschlagenden Erfolg am Stuttgarter Premierenabend als das stimmige Regiekonzept waren freilich andere Faktoren. Dazu zählt, dass die Regie den Buffo-Charakter des von Donizetti als „Melodramma“ bezeichneten Stücks ernst genommen hat. Denn diese Oper ist prall gefüllt mit Witz und ironischen Verweisen – und es gibt einiges zu lachen an diesem Abend. Die Komik des Auftritt des großmäuligen Sergeanten Belcore samt Tschingderassa-Militärmarsch etwa wird unterstrichen durch die lächerliche Kostümierung der Soldaten mit kurzen Hosen und weißen Helmen. Für eine andere Art von Witz sorgt der Komponist höchstselbst: Das Pathos der berühmten Romanze Nemorinos „Una furtiva lagrima“ unterminiert Donizetti mit einer näselnden Introduktion des Fagotts in unbequem hoher Lage.
Womit wir bei der musikalischen Umsetzung wären, und die ist über weite Strecken großartig. Das liegt in erster Linie am sehr homogenen Sängerensemble, aus dem der junge Tenor Kai Kluge herausragt. Das Stuttgarter Ensemblemitglied war bisher vor allem in Mozart-Rollen zu hören, beweist aber als Nemorino seine lyrische Exzellenz auch im italienischen Fach. Eine Stimme, die wunderbar auf dem Atem sitzt und dabei zu jener irisierenden Strahlkraft fähig ist, wie man sie bei manchen großen Tenören bewundert. Allein wegen ihm würde sich der Besuch lohnen. Aber da ist ja noch der grandiose Giulio Mastrototaro als Dulcamara, der seine Wortkaskaden in atemberauberender muttersprachlicher Gewandtheit herunterrattert, und auch Björn Bürger als Belcore überzeugt mit profunder baritonaler Eloquenz. Claudia Muschio (Adina) ist ein koloraturensicheres Goldkehlchen, dem es nur in der Mittellage manchmal etwas an Wärme fehlt. Michele Spotti schließlich am Dirigentenpult des Staatsorchesters kitzelt aus diesem den passenden italienischen Klang: schnell, direkt und trocken, mit peitschenden Akzenten und dennoch der richtigen Phrasierungseleganz in den vielen elegischen Kavatinen und Arien. Allenfalls in den großen Ensembleszenen wackelt es noch hie und da. Aber das sollte sich in den kommenden Aufführungen justieren lassen.

Vorsicht: Mikroaggressionen!

23.
Okt.
2022

Matthias Deutschmann im Renitenztheater

Was jetzt noch Ironie ist, könnte bald Realität werden. Er müsse, so der Kabarettist Matthias Deutschmann im Renitenztheater, vorab eine Triggerwarnung aussprechen: Sein Programm „Mephisto Consulting“ enthalte Mikroaggressionen! Sollten ihm überdies im Laufe des Abends Rastalocken wachsen, könne er für daraus resultierende seelische Verletzungen keine Haftung übernehmen. Selbst Schachspielen sei mittlerweile ein Problem: Weiß beginnt – das gehe doch auch nicht mehr. Und mit schwarz zu spielen – ist das nicht kulturelle Aneignung?
Identitätspolitik und Gendersprache („Minderheiten mit Sternen zu markieren, ist das nicht merkwürdig?“) ist aber nur eines der Felder, auf denen das Urgestein des deutschen Kabaretts seine meist treffsicheren Pointen landen lässt. Sowohl geografisch wie historisch misst Deutschmanns satirischer Rundumschlag dabei weite Distanzen aus. In England herrsche ja seit dem Tod der Queen Chaos, doch was halte uns in Deutschland zusammen? Die Rundfunkgebühr! Und der SWR? Der sei eine Pensionskasse mit Sendelizenz. Das mag man hier ebenso ungern hören wie die Berliner den Vorwurf, sie könnten durch die Wiederholung der Wahl die Koalition im Bund platzen lassen. Man wisse ja, was passiert, wenn die Ampel kaputt ist: „Dann gilt: rechts vor links“.
Und auch wenn Deutschmann, der sich zwischendurch immer wieder, im Übrigen sehr gekonnt, ans Cello setzt, die schnelle Pointe nicht verschmäht (“Alle Silben, die Oettinger verschluckt hat, würgt Kretschmann wieder aus…“), so ist er am brillantesten, wenn er sich den großen Themen widmet. Wie der Frage, warum die Spezies Homo sapiens so erfolgreich ist („Die Geilheit ist die Hintergrundstrahlung der Evolution“) oder jener, welcher der vielen Götter wohl letzlich gewinnen wird. Wobei – die Höllen, hier rekurriert er auf den Titel seines Programms, hätten ihn ja schon immer mehr interessiert als die Himmel. Die evangelische Hölle sei dabei vermutlich angenehmer als die katholische: sie werde nämlich nicht geheizt.

Bruce Liu spielte in der Meisterpianistenreihe

19.
Okt.
2022

Passiert auch nicht allzuoft, dass sich ein Großteil des Publikums am Ende erhebt, um dem Pianisten stehend zu applaudieren – doch so, wie Bruce Liu mit der Klavierfantasie Franz Liszts über Mozarts „Don Giovanni“ am Ende seines offiziellen Programms die Zuhörer fast in einen Taumel gespielt hatte, blieb vielen kaum anderes übrig, als hernach begeistert aufzuspringen. Es war der erste Klavierabend der Meisterpianistenreihe, mit dem der Gewinner des letztjährigen Chopin-Wettbewerbs gleich ein dickes Ausrufezeichen setzte. Chopin war auch die erste Hälfte des Programms gewidmet. Das Rondo à la Mazur op. 5 ist ein selten zu hörendes Stück, eher leichtgewichtig in seiner spielerischen Verarbeitung des Mazurkenrhythmus, aber schon mit jenen typischen melodischen Galanterien durchsetzt, die auch viele von Chopins späteren Werken prägen. Schon hier zeigte sich Lius Gespür für das rechte Maß: alles ist agogisch durchgestaltet, aber niemals auch nur die Grenze des Sentimentalen streifend – ebensowenig wie bei den Variationen über „Là ci darem la mano“ op. 2, einem hochvirtuosen, dezent salonesken Showpiece des jungen Chopin, das Liu die Gelegenheit gab, seine hyperpräzise Klaviertechnik ins rechte Licht zu rücken. Dass die Töne des leichthändig hingeworfenen Skalenwerks dabei eher perlmutt schimmerten als silbrig glänzten, war auch dem Klangcharakter des Fazioliflügels zu verdanken: der mag nicht ganz so dynamisch klingen wie die Konkurrenz von Steinway, ermöglicht dem sensiblen Pianisten aber subtilste klangliche Abschattierungen. Und so ließ Liu die fünf Sätze von Maurice Ravels „Miroirs“ in fast orchestral anmutender Klangpracht entstehen, dabei wie ein Maler die Farbschichten in- und übereinanderlegend – ein Meisterstück musikalischer Charakterisierungskunst und zweifellos der Höhepunkt des Abends. Für die Ovationen bedankte sich der sichtlich gerührte Liu mit vier Zugaben: zweimal Rameau, einmal Chopin, und am Ende, zauberisch leicht, Liszts berühmte La campanella-Etüde. STZ

„Eclipse“ mit Hilary Hahn

03.
Okt.
2022

Es gibt viele tolle Geiger. Und es gibt Hilary Hahn. 1997, mit 18 Jahren, brachte sie ihre erste CD mit Sonaten und Partiten Bachs auf den Markt, damals verblüffte ihre Vereinigung von geigerischer Perfektion, Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks: Hilary Hahn musizierte, als ginge es dabei um alles – was, nimmt man es genau, ja auch stimmt. Und diese Haltung zeigt sie auch auf ihrer neuen CD, deren Titel „Eclipse“ als Metapher für Hahns Wiedereintritt ins Licht der Kunst nach jahrelanger coronabedingter Verdunkelung zu verstehen ist. Und als hätte sich da enorm viel aufgestaut an musikalischem Ausdrucksbedürfnis, zeigt sie in jedem der drei Werke eine durch Stilbewusstsein und Sensibilität geadelte Hingabe, die einen beim Hören fast befangen machen kann. Zum Niederknien schön bei Dvorák, blitzend virtuos bei Ginastera und in Sarasates Carmen-Fantasie – ach, hören Sie selbst!

Die Stuttgarter Oper hat die neue Spielzeit mit Schorsch Kameruns „Come together“ eröffnet

19.
Sep.
2022

Es kommt ja eher selten vor, dass Ex-Punker sich im bürgerlichen Kulturbetrieb etablieren können. Schorsch Kamerun, einst Frontmann der Punkband „Die goldenen Zitronen“, ist das trefflich gelungen. Landauf, landab wird er von Theatern als Regisseur verpflichtet, dazu kommen Programme wie die Musiktheaterperformance „All together now!“, die im Juli diesen Jahres am Münchner Residenztheater über die Bühne ging. An der Stuttgarter Staatsoper hat Kamerun zwei Projekte gestaltet, zuletzt im Juli 2021 einen „Nocturne“ betitelten Abend, der gleichzeitig den Abschluss der Spielzeit markierte. Die Eröffnung der neuen Spielzeit hat die Oper nun Kamerun mit einer Produktion anvertraut, die sich – der einem Beatlessong entlehnte Titel „Come together“ weist darauf hin – thematisch an die aus München anlehnt.
Versteht man dieses Motto als Imperativ, so sind ihm am Sonntagabend viele gefolgt. Dass dennoch einige Plätze, ziemlich viele sogar, leer geblieben sind, könnte an der Postcorona-Lethargie liegen. Vielleicht aber auch daran, dass sich Kameruns Modell mittlerweile etwas erschöpft hat. Denn sein dramaturgisches Rezept erscheint einigermaßen simpel: Zunächst überlege man sich einen Titel, der das Ganze dramaturgisch kittet. „Come together“ kann dabei als der kleinste gemeinsame Nenner des Kulturbetriebs gelten, gibt es ohne das Zusammenkommen von Menschen doch keine Veranstaltung. Da auch die örtlichen Kräfte, in diesem Fall die der Staatsoper, einzubinden sind, nehme man einige thematisch passende Opernarien, garniere sie mit Orchestralem und konfrontiere das alles möglichst hart mit Musik aus anderen Genres. Vorzugsweise Rap. Dazu kommt Selbstgesungenes mit der eigenen Band, was den Vorteil hat, dass man auch gleich die neue CD promoten kann. Jetzt fehlt, eine visuelle Ebene ist heute Standard, nur noch ein Videokonzept, in diesem Fall eine Übertragung aus einem verglasten Bühnenkubus, in dem eine Schauspielerin (Annemaaike Bakker) Blüten seziert und Kameruns Texte rezitiert. Fertig ist der Abend.
Musikalisch beginnt der großartig. Schwer atmet und seufzt das Akkordeon (Anne-Maria Hölscher) auf der ins Halbdunkel getauchten Bühne, ehe die Altistin Stine Marie Fischer mit den ersten Worten von Johann Christoph Bachs berühmtem „Lamento“ einsetzt: „Ach, dass ich Wasser gnug hätte in meinem Haupte, und meine Augen Tränenquellen wären…“ Dann tritt das Orchester hinzu und es entsteht, was große Kunst vermag: Verzauberung, Aura, emotionale Berührung.
Im Verlauf des Abends gibt es noch mehrere solch intensiver Momente. Rückenschauererregend die Arie der Sapho aus Charles Gounods gleichnamiger Oper „O ma lyre immortelle“, die Diana Hallers sengender Mezzo regelrecht ins Herz brennt, genauso eindringlich wie Gustav Mahlers Orchesterlied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. „Musik aus Österreich, wunderbar“ kommentierte das der in einem kaftanartigen Gewand und mit Badelatschen an den Füßen von seinem Tischchen am vorderen Bühnenrand aus moderierende Schorsch Kamerun – selbst wenn das Österreichische nun vielleicht doch das am wenigsten Bemerkenswerte an Mahlers Musik ist.
Für Kamerun freilich, das vermittelt er mit Produktionen wie dieser, ist ohnehin alles irgendwie gleich. Ob das nun die schlichten Verse der Rapperin Ebow sind, Charles Ives´ Orchesterstück „The Unanswered Question“ oder sein eigener fistelnder Sprechgesang – alles ist halt Musik. Es gibt keine Hierarchie, und so darf alles mit allem kombiniert werden.
Für einige Zeitgenossen mag diese Freiheit im Umgang mit Genres verlockend klingen, zumal wenn sie, wie im Fall des domestizierten Punkers Kamerun, obendrein mit gesellschaftlich angesagten Attributen wie Diversität und Nachhaltigkeit einhergeht – auch wenn musikalisch sensible Naturen einwenden könnten, dass es vielleicht doch nicht ganz egal ist, ob ein Vokalsolo Sofia Gubaidulinas nach einem Rap gesungen wird oder nicht.
Aber vielleicht geht es ja an diesem Abend auch mehr darum, einfach mal etwas Spaß haben zu dürfen im Opernhaus. Aus voller Kehle mitzusingen beim „Konzert für Publikum und Orchester“ von Nicola Campogrande, sich zu amüsieren über das Duo aus Schwirrholz und Gänsegeierflöte und mal wieder kollektiv optimistisch in die von Krisen bedrohte Zukunft zu blicken. „Crisis, what Crisis?“ fragt Schorsch Kamerun am Ende ins merklich euphorisierte Publikum. Und lobt sich selber: „Wow, das uns das gelungen ist!“Na dann. (STZN)

Dima Slobodeniouk dirigierte das SWR Symphonieorchester

24.
Jun.
2022

Ballettmusik ohne eine dazugehörige Choreografie, kann das funktionieren? Nun, wenn die Musik schon für sich allein derartig plastische Bilder evoziert wie Sergej Prokofjews Ballettsuiten „Cinderella“ und dazu noch mit solcher Brillanz gespielt wird wie vom SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Dima Slobodeniouk, dann auf jeden Fall. Für das Abokonzert im wieder einmal recht gut besuchten Beethovensaal hatte der russische Dirigent in die komplette erste noch zwei Sätze aus der zweiten Konzertsuite eingefügt – eine stimmige Ergänzung der ohnehin schon bildhaften Musik um einige reizvolle Facetten. Und so erlebte man die Geschichte um das arme Aschenbrödel, das am glücklichen Ende seinen Prinzen bekommt, wie ein Ballett in Tönen: von der geheimnisvollen, schwermütigen Einleitung über die rustikale Mazurka und Cinderellas beschwingten Walzer bis zur dramatischen Mitternachtszene, wo Cinderella aus dem Ballsaal fliehen muss, um dem Ende des Zaubers zuvorzukommen. Das fabelhaft disponierte Orchester, rhythmisch gestützt von den stark besetzten Perkussionisten, verwirklichte dabei aus einem hell-präzisen Grundklang heraus den üppigen Farbenreichtum der Partitur – beweglich, animiert, aus einem Guss.
Zuvor hatte der ukrainische Pianist Vadym Kholodenko mit Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ für den ersten Höhepunkt dieses Abends gesorgt. Der Artist in Residence des SWR Sinfonieorchesters in dieser Saison ist ein technisch eminent beschlagener Pianist und alles andere als Tastendonnerer. Transparenz und Differenzierung liegen ihm weit mehr am Herzen als virtuoses Auftrumpfen und gefühlige Rubati – und so hört man die Paganini-Rhapsodie in einer berückenen Mischung aus dezenter klanglicher Schärfe und einer von allen sentimentalen Schlacken befreiten Luzidität. Aus dieser Haltung heraus gewinnt das Finale umso mehr an Wucht, zumal Kholodenko die rasenden Oktavketten mit schier unglaublicher Leichtigkeit hinlegt. Großer Jubel im Saal. (STZ)