Beiträge der Kategorie ‘Oper’

George Benjamins „Into the little hill“ im Kammertheater Stuttgart

12.
Jun.
2015

Ohne Augen, ohne Nase, ohne Ohren

Keine schöne Geschichte, die vom Hamelner Rattenfänger. 130 Kinder entführen und sie dann aufs Nimmerwiedersehen verschwinden lassen, nur weil der versprochene Lohn nicht bezahlt wurde, das ist ganz schön gruselig. Und ungerecht ist es obendrein, denn was können schließlich die Kinder dafür, dass ihre Eltern sich nicht an Abmachungen halten? Doch gerade das Unheimliche ist es, das Kinder wie Erwachsene an Märchen wie diesem fasziniert, in dem es außer um Gerechtigkeit und Verantwortung vor allem um die Macht der Musik geht. Ein idealer Opernstoff also, den der britische Komponist George Benjamin 2006 nach dem Libretto von Martin Crimp zu einer Kurzoper verarbeitet hat: „Into the little hill“ heißt sein Stück für zwei Sängerinnen und 15-köpfiges Instrumentalensemble. Eine Neuinszenierung durch die Junge Oper Stuttgart hatte nun im Kammertheater Premiere.
In den acht mit surrealen Elementen angereicherten Szenen wird weniger die Geschichte erzählt. Eher werden Situationen entworfen, in denen sich Realität und Fantasie, Bewusstes und Unterbewusstes ineinander auflösen wie die Figuren selber. Denn jede der beiden Sopranistinnen (souverän: Marie-Pierre Roy und Nadia Steinhardt) übernimmt vier Rollen, wobei der Rattenfänger als amorphe Gestalt auftritt – „ohne Augen, ohne Nase, ohne Ohren“, wie es im Programmheft heißt. Auch eine Flöte hat er nicht, was wohl seine Verführungskraft ungreifbar machen soll. Die Rolle des Ministers erweitert das Stück um eine politische Dimension: Die Ratten, die er offenbar aus wahltaktischen Erwägungen ausmerzen will, lassen sich dabei als Metapher für alle unerwünschten Subjekte verstehen, die die soziale Ordnung gefährden könnten.
Der Vieldeutigkeit des Textes entspricht Benjamins Musik, die gleichermaßen dramatisch wie atmosphärisch ist. Das kleine, aus jungen Musikern bestehende Ensemble (Leitung: Nicholas Kok) ist interessant besetzt, zu Streichern und Bläsern treten Banjo und Zymbal – das klangliche Spektrum ist dementsprechend groß. Linien von Bassklarinette und Bassflöte betonen das unheilvoll Dräuende mancher Szenen, schrille, perkussive Klänge sorgen für dramatische Zuspitzungen.
Benjamins Oper ist ein hoch anspruchsvolles Werk zeitgenössischen Musiktheaters auf einem beträchtlichen Abstraktionsniveau, durchaus geeignet für eine ambitionierte Produktion im Opernhaus. Ein „Stück ab 12 Jahren“ wie es die Junge Oper annonciert, ist es aber sicher nicht – und wird es auch dadurch nicht, dass etwa 20 Kinder mitspielen und eine Erzählerin (Julienne Pfeil) zu Beginn einen Überblick über die der Oper zugrundeliegende Handlung gibt. Vielleicht trägt das sogar zur Verwirrung bei, denn wie sollen Kinder und Jugendliche verstehen, dass der Rattenfänger zunächst „als wunderlich gekleideter Mann mit einem bunten Rock“ beschrieben wird, auf der Bühne aber aussieht wie ein Brandverletzter mit Kopfverband? Selbst ältere Kinder dürfe es überfordern überhaupt mitzubekommen, wer da nun eigentlich wer ist bei den ständigen Rollenwechseln, zumal man die Augen permanent auf das über die Bühne projizierte Textband richten muss – denn die Oper wird auch noch auf Englisch gesungen!
Nein, diese Produktion ist gut gemeint, aber ansonsten ein großes Missverständnis. Dass es Opern für Kinder und Jugendliche gibt, die sich an deren Welt- und Hörerfahrungen anlehnen, ohne sich anzubiedern, hat die Junge Oper immer wieder gezeigt. Diese zählt nicht dazu.

Mozarts „Cosí fan tutte“ an der Staatsoper Stuttgart

01.
Jun.
2015

Beethoven und Wagner mochten sie nicht, auch Hugo von Hofmannsthal hatte seine Vorbehalte gegen Mozarts „Cosí fan tutte“: „Alles Ironie, Lüge, Täuschung,“ urteilte der Dichter. Andere störten sich an der vermeintlichen Unmoral des Librettos von Lorenzo da Ponte, in dem zwei junge Frauen wie in einem emotionalen Versuchslabor zur Untreue verführt werden.
Ein zentraler Punkt in Mozarts dritter und letzter Da-Ponte-Oper ist die Verkleidungsszene, in der die beiden angeblich in den Krieg gezogenen Ferrando und Guglielmo als „Albaner“ zurückkehren, um die Treue ihrer zurückgelassenen Frauen auf die Probe zu stellen. Dass dabei die Frauen ihre notdürftig maskierten Liebhaber nicht erkennen würden, so finden einige Regisseure, sei mithin völlig unwahrscheinlich – und ziehen daraus für ihre Inszenierungen die Konsequenz, die Frauen aus ihrer Opferrolle zu befreien und zu Mitwissern zu machen. Sei es dadurch, dass diese die Wette zwischen Don Alfonso, Ferrando und Guglielmo heimlich belauschen – oder eben das Maskenspiel durchschauen.
Aber abgesehen davon, dass Verkleidung und Maskerade zur Oper gehören wie die Musik – ginge es um Realitätsnähe, könnte man die Theater schließen, wer unterhält sich schon singend? – so wird das Rollenspiel in „CosÍ“ durch diesen Regietrick noch komplexer, als es ohnehin schon ist: fürderhin spielen die Frauen wie die Männer ein falsches Spiel.
Der griechische Regisseur Yannis Houvardas geht in seiner Neuinszenierung für die Stuttgarter Staatsoper nun noch einen Schritt weiter: bei ihm sind die Frauen gleich mit anwesend, als die Wette zwischen Don Alfonso, Ferrando und Guglielmo abgeschlossen wird. Das hat dramaturgisch verhängnisvolle Konsequenzen. Denn wenn alle Bescheid wissen, wird die Oper zur Farce. Der Auftritt der falschen Albaner ist dann nur eine alberne Posse, der ganze Aufzug um die Arsenvergiftung mit der Kammerzofe Despina (die als Figur weitgehend überflüssig wird) als falschem Arzt bloßer Schabernack. Die Doppelbödigkeit der Oper, die aus dem fein austarierten Spannungsverhältnis von Aufrichtigkeit und Maskerade, falschen und echten Gefühlen resultiert, wird hier heruntergebrochen auf ein geheimnislos nivelliertes Als-ob-Spiel aller Beteiligten.
Mag sein, dass Houvardis seiner versammelten Gesellschaft ja nicht mehr zutraut als korrumpierte Gefühle. Die Oper verortet er in einer Art möbliertem Setzkasten im 60er Jahre Stil (Bühne: Herbert Murauer), mit gemusterten Tapeten und braun furnierten Möbeln, zur Bühne hin offen und auch sonst leicht gebaut: wer an den Wänden lauscht – und das tun hier alle – bekommt mit, was ein Zimmer weiter gesagt oder gesungen wird. Die Idee, die Handlung in die Nachkriegszeit der beginnenden sexuellen Revolution zu versetzen, ist eigentlich plausibel: Mozart schrieb die Oper in der Endphase des ancien régime, ein Jahr nach der französischen Revolution, als eine Art Abgesang nicht nur auf den Absolutismus, sondern auf die Operntradition mit ihren überlieferten Rollenbildern. Doch das piefige Ambiente bleibt in Stuttgart bloßes Dekor, denn darüberhinaus wird nicht recht deutlich, was diese Menschen nun eigentlich motiviert. Sind sie sexuell frustriert? Das würde erklären, warum sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die Wäsche gehen. Sind sie gelangweilt? Vielleicht lümmeln sie deshalb so oft auf den Sitzgruppen und starren vor sich hin. Während der Arien jedenfalls erscheint die Szenerie oft wie eingefroren, und außer Gefummel passiert auch sonst nicht viel. Schon gar nicht szenisch beglaubigen kann die Regie, dass es da im zweiten Akt funken soll zwischen den neuen Paaren.
Mozarts Musik freilich erzählt eine andere Geschichte. In der zeigt er seine große Kunst, das Heitere im Tragischen, das Leichte im Schweren zu finden und umgekehrt. Der hohe Seria-Ton von Fiordiligis koloraturgesättigter Felsen-Arie besitzt unzweifelhaft parodistische Züge, auch bei Ferrandos „Un aura amorosa“ weiß man nicht so recht, an wen sich dessen Liebesbekundungen nun wirklich wenden. Dennoch hat man bei beiden den Eindruck von Aufrichtigkeit und echter Empfindung.
Welch Glück, dass die Stuttgarter Inszenierung Sänger besitzt, die dies vermitteln können. Das gilt vor allem für die beiden Protagonistinnen Mandy Fredrich (Fiordiligi) und Diana Haller (Dorabella). Beide entwerfen ihre großen Arien als berührende Seelenschauen zerrissener Frauen: imponierend Diana Haller mit bestechender Intonation, wunderbaren Pianissimi und einer dezenten geschärften Höhe, die durch Mark und Bein geht. Mandy Fredrich, ab der nächsten Saison Ensemblemitglied, becircte mit weit gespannten Melodiebögen und balsamisch weichen Spitzentönen – berückend ihre hornbegleitete Arie „Per pietà“.
Yuko Kakutas (Despina) Zwitschersopran blieb dagegen in den Ensembleszenen schlicht zu leise, dafür sang Ronan Collett den Guglielmo mit rund geführtem und prächtig timbrierten Bariton. Problematischer Gergely Nemetis Ferrando: er besitzt eine angenehm timbrierte Tenorstimme, in der Arie „Un aura amorosa“ verrutschte ihm aber die Intonation, auch klang er in der Höhe merkwürdig gedeckt. Profund, angemessen voluminös und auch darstellerisch sehr präsent Shineo Ishino (Don Alfonso).
Bei Sylvain Cambreling am Pult des Staatsorchesters spürte man das Bemühen, dem oberflächlichen Bühnentreiben musikalische Wahrhaftigkeit entgegenzusetzen und sich dabei sowohl von romantisierender Fülle wie von historisch-kritischem Akzentuierungsfuror fernzuhalten. Cambreling suchte Ausdruck in atmender Phrasierung und agogischer Feinzeichnung, apart klanglich verschattet gelang ihm das Abschieds-Terzettino „Soave sia il vento“. Schon die recht betulich angegangene Ouvertüre aber wirkte ryhthmisch konturlos, und auch in den groß angelegten Konzertarien blieb er unverbindlich, zu weit weg vom Pulsschlag der Musik. Bereits im ersten Akt klapperte es gelegentlich zwischen Bühne und Graben, später  hatte Cambreling alle Hände voll zu tun, in den großen Ensembleszenen die Fäden zusammenzuhalten. Das Publikum war´s dennoch zufrieden: viel Applaus für alle Beteiligten. (StZ)

Jonas Kaufmann im Stuttgarter Beethovensaal

20.
Apr.
2015

Freunde, die Stimme ist hörenwert

Irgendwie kommt einem das spanisch vor. Dass in Emmerich Kálmáns Ouvertüre zur Operette „Gräfin Mariza“, die in Ungarn spielt, Kastagnetten knacken – na, das kann ja wohl kaum sein. Als dann aber die ersten Takte der Melodie von „Meine Lippen, die küssen so heiß“ erklingen – eine der Lieblingszugaben von Anna Netrebko übrigens – wird klar, dass das Programm beim Auftritt von Jonas Kaufmann im Beethovensaal der Liederhalle umgestellt wurde: das Münchener Rundfunkorchester begann nicht mir Kálmán, sondern mit dem Walzer aus Franz Lehárs Operette „Giuditta“. Und die spielt in Spanien. Aber man kennt halt aus Operetten meist nur wenige bekannte Nummern, was daran liegt, dass sie im Ganzen kaum mehr aufgeführt werden, gibt ihre Handlung in der Regel wenig her fürs Regietheater. So hat sich auch Jonas Kaufmann für sein Programm „Du bist die Welt für mich“ an die üblichen Operettenpreziosen gehalten, diese aber mit Liedern aus frühen Tonfilmen wie „Liebeskommando“ oder „Ein Lied geht um die Welt“ ergänzt. Und weil letztere eben nicht mit saalfüllender Tenorkraft, sondern leicht gesungen werden sollen, hat er auch eine dezente Verstärkung installieren lassen – nicht ohne das Publikum gleich zu Beginn darauf hinzuweisen, dass er den Saal auch ohne Mikrofon füllen könne, was er mit „Freunde, das Leben ist lebenswert“ aus „Giuditta“ auch sogleich nachdrucksvoll belegt: Freunde, die Stimme ist hörenswert. Was für ein betörendes Timbre, welche Strahlkraft und Projektion! Metall und Schmelz sind hier in perfekter Balance vereint, auch Kaufmanns Diktion ist lupenrein. Doch das Erstaunlichste ist seine klangliche Kontrolle über das gesamte dynamische Spektrum, was ihn wohl zum derzeit vielseitigsten unter den großen Tenören macht – egal ob als Heldentenor, als Liedinterpret oder im Belcantofach, es scheint kaum etwas zu geben, was er nicht kann.
Durchaus folgerichtig also, dass sich Kaufmann (wohl nicht zuletzt auch aus aus Marketinggründen, die CD ist ein Verkaufsrenner) auch an die Operette gewagt hat – was freilich nicht ganz gefahrlos ist, denn der Grat zwischen Nonchalance und Schmalzbackenkitsch ist schmal: Ein Hauch zuviel Sentiment, und schon tappt man im Seichten. Dem großen Fritz Wunderlich gelang dieser Balanceakt einst formidabel, und auch Kaufmann bleibt insofern immer auf der sicheren Seite, als er weder stimmlich noch gestisch jemals über die Stränge schlägt. Auch wenn der Text ins Kitschige driftet, bleibt sein Singen nobel, und wenn er bei „Gern hab ich die Fraun geküsst“ eine Hand locker in die Hosentasche steckt, ist das schon fast der Gipfel an darstellerischer Verausgabung. Erst nach der Pause, bei Robert Stolz´“Im Traum hast Du mir alles erlaubt“ geht er etwas aus sich heraus, wippt sogar dezent mit dem Orchester mit. Eine gewisse Distanz zum Operettensujet bleibt gleichwohl spürbar. Doch dafür entzückt er mit allerlei vokalen Kunstfertigkeiten wie Verzierungsschluchzern auf der letzten Silbe oder irisierende Spitzentöne, dazu immer wieder die „messa di voce“, das An- und Abschwellenlassen der Töne, das kaum einem derart locker gelingt.
Es ist ein hochklassiger Abend, an dem auch das Münchner Rundfunkorchester einen gewichtigen Anteil hat, das die Musik genauso ernst nimmt wie Kaufmann selbst. Walzer wie der aus Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ spielt das von Jochen Rieder geleitete Orchester federleicht und mit rhythmischer Innenspannung, das zweite Viertel leicht vorgezogen – das machen auch die Kollegen aus Wien kaum besser. Glänzend auch die Bläsersolisten, mit deren Hilfe Rieder in Lehárs Ouverture zu „Das Land des Lächelns“ fast puccinihafte Klangmischungen freilegt.
Kein Wunder, das aas überproportional aus Frauen bestehende Publikum am Ende völlig enthusiasmiert war und den charmanten Sänger mit reichlich Blumen und Applaus bedachte. Drei Zugaben, darunter „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“. An diesem Abend war es im Beethovensaal zu finden.

(StZ)

Strauss´ Rosenkavalier zur Eröffnung der Osterfestspiele in Baden-Baden

29.
Mrz.
2015

Bekannte Operngesten

Das Wienerische, natürlich gehört es zum „Rosenkavalier“. Haben Richard Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal die Oper doch in einer imaginierten Maria-Theresia-Zeit angesiedelt, als „Wienerische Maskerad“ um Liebesfreud und- leid, angelegt als klassische Dreiecksgeschichte. Die fürstliche Feldmarschallin betrügt ihren Ehemann mit dem jungen Octavian, der wiederum für den Baron Ochs von Lerchenau, einen Schürzenjäger mit schlechten Manieren, den Brautwerber spielen soll, sich bei der Gelegenheit aber selber in die Braut verliebt. Am Ende, nach allerlei Turbulenzen, findet das junge Paar zueinander, der Baron zieht düpiert von dannen, die Marschallin fügt sich in ihr Schickal. Auf der anderen Seite ist das Wienerische im „Rosenkavalier“ auch bloß ein ästhetisches Element innerhalb einer durch und durch artifiziellen Werkkonzeption: Den Wiener Walzer, den Strauss immer wieder als historische Beglaubigung hereinwehen lässt, hat es zur Zeit Maria Theresias noch gar nicht gegeben, er ist ebenso eine Fiktion wie die mit französischen Begriffen eingefärbte Kunstsprache, mittels der sich vor allem der Ochs von Lerchenau als kultiviert darzustellen trachtet.
Insofern stört es auch nicht sehr, wenn Peter Rose, dem Ochs in der Baden-Badener Neuinszenierung des „Rosenkavaliers“ zur Eröffnung der Osterfestspiele, das Wiener Idiom etwas mühsam über die Lippen geht. Bei „Bluad“ und „Liadl“ betont der Brite das „a“ immer etwas über Gebühr, ansonsten ist sein Deutsch ebenso tadellos ist wie sein markanter, virtuos geführter Bass. Mit den klassischen Ochs-Attributen ausgestattet, spannt sich sein Wams prall überm wohlgenährten Bauch, den er stolz vor sich herträgt – ein vierschrötiger, bauernschlauer Kerl Marke Gutsbesitzer, dessen Selbstbewusstsein nur noch von seiner Arroganz übertroffen wird.
Nicht nur bei der Charakterisierung des Ochs hat sich Brigitte Fassbaender als Regisseurin weitgehend an den traditionellen Rollenbildern orientiert. Die Marschallin (Anja Harteros) ist die reflektierte, reife Frau, die das Treiben mehr aus der Distanz betrachtet, Sophie (Anna Prohaska) kaum mehr als ein hübsch-naives Hascherl. Und was ist mit Octavian, der Paraderolle von Brigitte Fassbaender, die sie selbst unzählige Male gesungen hat? Es ist vielleicht die schwierigste Partie des ganzen Stücks, auch deshalb, da sie der Darstellerin quasi eine doppelte Verwandlung abverlangt: zum einen als Hosenrolle, in der sie als Frau einen Mann darstellt, der sich dann wiederum – zur Täuschung des Barons Ochs – als Frau ausgeben muss. Magdalena Kozená, die Ehefrau des Dirigenten Simon Rattle, fremdelt den ganzen Abend spürbar mit dieser Rolle. Das Schwanken zwischen jugendlich-viriler Agilität und scheuer Sanftheit fällt ihr schwer – weder nimmt man ihr die Liebe zur Marschallin ab, noch vermag sie das Erwachen der Gefühle für Sophie glaubhaft darzustellen. Ihre Wandlung zur Kammerzofe Mariandl wirkt klamottig, fast wie aus dem Boulevardtheater, und auch stimmlich fällt ihr monochromer, in den Höhen brüchiger Sopran gegenüber dem Gesamtniveau des Abends deutlich ab. Eine klassische Fehlbesetzung, nicht zuletzt auch wegen des Umstands, dass sie fast der gleiche Jahrgang ist wie Anja Harteros: laut Libretto sollte sie etwa halb so alt sein. Die Marschallin ist die mit Abstand überzeugendste Figur des Abends. Harteros singt sie mit der Ruhe und Selbstbeherrschung der reifen Frau, mit einem Sopran, der so anmutig wie glutvoll ist, Eloquenz in der Linienführung mit farblicher Differenzierung vereint – anrührend ihr Seelenporträt gegen Ende des ersten Aktes „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“. Anna Prohaskas lyrisch-leichter Sopran wiederum ist der pure Liebreiz – doch dass sie als Sophie wenig Kontur gewinnt, hat auch damit zu tun, dass die Regie die Figuren weitgehend allein lässt und auch sonst kaum Akzente setzt.
Der Verzicht auf opulentes Rokoko-Ambiente ist dabei nicht das Problem – auch nicht, dass der erste Akt nicht im Schlafzimmer der Marschallin spielt, sondern in einem kargen Salon mit Sofa und Sitzgruppe. Aber nicht nur hier agieren die Figuren mehr oder weniger statisch, behelfen sich mit pauschalen Operngesten. Das gilt für die steifen Umarmungen von Octavian und Marschallin ebenso wie für das derbe Getatsche des Ochs im zweiten Akt. Am auffälligsten wird es, wenn der Chor auf die Bühne kommt. Da sieht man dann die üblichen, stereotypen Gesten: emsiges Geplapper, Gestikulieren. Hauptsache, man steht nicht untätig rum.
Nun kennt Brigitte Fassbaender das Stück so gut wie wenige – vielleicht zu gut? Jedenfalls vermisst man bei dieser Inszenierung irgendeine interessante, ungewohnte Perspektive, einen Ansatz, der hinausreichen würde über die bekannten Aufführungskonventionen. Immerhin gelingen ab und zu interessante Bilder: etwa im 2. Akt, bei der Überreichung der Rose, in der Octavian in ein schillerndes, grellbuntes Rokokokostüm gekleidet ist. Die Szene wirkt unwirklich, wie aus der Zeit gefallen – und unterstreicht damit den Künstlichkeitscharakter der Oper. Im Gegensatz zum Ende, das plumper kaum geht: wenn Octavian und Sophie sich nach dem Abgang des Barons in der Schenke auf das Bett werfen und dann verschwörerisch lächelnd den Vorhang zuziehen, auf dass bloß keiner sehen mag, was dahinter wohl gleich vor sich geht. Kicher, kicher.
Auch die transparenten Schleierwände, auf die der Bühnenbildner Erich Wonder während der Szenen allerlei Bilder projiziert, ändern am Gesamteindruck wenig, zumal manche der Ansichten weniger irritierend als schlicht unverständlich wirken: was es bloß mit dem leeren Schwimmbad im dritten Akt auf sich hat?
So bleibt immer noch die Musik. Und allein dafür lohnt sich dieser Rosenkavalier. Denn auch wenn die Kollegen aus Wien die Walzer authentischer und schwungvoller spielen mögen, so sind doch Kultiviertheit und individuelle Klasse der Philharmoniker aus Berlin derzeit ohne Vergleich. Simon Rattle wird ja immer wieder vorgehalten, kein ausgewiesener Operndirigent zu sein, und tatsächlich klingt auch dieser Rosenkavalier in manchen Passagen eher wie vokal begleitete Orchestermusik denn wie originär dramatisches Musiktheater. Aber was klangliche Austarierung anbelangt, die Verblendung der Stimmgruppen, das Ausdifferenzieren farblicher Valeurs, da kann ihm und seinem Orchester derzeit kaum jemand das Wasser reichen. Jedes Solo, speziell der Holzbläser, ein Genuss. Und insgesamt ein Orchesterklang von einer leuchtenden Transparenz und schlank-sehnigen Kompaktheit, wie man ihn in Opernhäusern kaum je zu hören bekommt. Am Ende großer, aber nicht berauschender Applaus. (StZ)

Johann Strauß´ Operette „Die Fledermaus“ im Beethovensaal

18.
Mrz.
2015

Es muss nicht immer Champagner sein

Dass einer den eigenen Ehepartner nicht erkennt, trotz wohl vertrauter Stimme, bloß weil der eine Perücke oder/und eine Augenmaske trägt – sowas gibt´s nur im Theater. So unrealistisch die Situation auch ist, so beliebt ist sie bei Librettisten, lassen sich daraus doch die herrlichsten Verwicklungen stricken. In seiner Operette „Die Fledermaus“ hat Johann Strauß das Verwechsungsspiel auf die Spitze getrieben. (Fast) jeder gibt hier vor, ein anderer zu sein, es wird getrickst, gelogen und getäuscht – doch am Ende fliegt der Schwindel auf und alle schauen bedröppelt drein. Macht nichts. Schuld war eh nur der Champagner.
Hierzulande trinkt man lieber Winzersekt, der wiederum öfter mal aus der Rieslingtraube ist, womit wir schon bei den Stuttgarter Philharmonikern wären. Die haben ihre „Große Reihe“ in dieser Saison bekanntlich unter das Motto „Rebsorten“ gestellt, für die Aufführung der „Fledermaus“ nun diente ihnen der Riesling quasi als Chiffre für jenen Schaumwein, welcher das bunte Treiben auf dem Fest des Grafen Orlofsky befeuert. Eine Operette im Abokonzert freilich ist ein aufwändiges Unterfangen: galt es doch, nicht nur zehn geeignete Sänger und einen Chor zu verpflichten, sondern das Stück auch noch schlüssig auf die nur bedingt operntaugliche Bühne des Beethovensaals zu bringen. Doch der Einsatz hat sich gelohnt. Und wie.
„Sie sind nicht in der Oper, Sie sind in einer seriösen Lokalität“!, scherzte der Gefängniswärter Frosch alias Ernst Konarek im dritten Akt, aber selbst in einem Opernhaus bekommt man eine derart mitreißende „Fledermaus“ nicht alle Tage zu sehen. Nicht nur musikalisch war die Aufführung erstklassig, auch szenisch machte Ernst Konarek, der Regie führte, das Beste aus den beschränkten Möglichkeiten. Nicholas Milton am Pult der prima disponierten Philharmoniker fand für die Polkas und Walzer die rechte Mischung aus Leichtigkeit, Eleganz und tänzerischem Schwung. Durchweg sehr gut die Sänger, die nicht nur stimmlich, sondern in den Dialogpartien auch darstellerisch überzeugten. Allen voran Sebastian Reinthaller: ein idealer Eisenstein, nicht nur da er gebürtiger Wiener und ein toller Tenor ist, sondern weil er die Mischung aus überheblicher Selbstgewissheit und Naivität großartig verkörperte. Auf hohem Niveau sangen auch Timothy Sharp als Dr. Falke und Stefanie C. Braun als Rosalinde, Anja-Nina Bahrmann becircte als soubrettenhafte Ulknudel in der Rolle des Stubenmädchens Adele.
Konarek inszenierte das Ganze als boulevardeskes Komödientheater, immer haarscharf an der Grenze zur Karikatur, ohne diese zu überschreiten. In den auf aktuellen Stand gebrachten Dialogszenen nutzte er jede Chance zu krachenden Pointen, wohl wissend, dass Subtilitäten wenig Chancen haben würden in dem Riesensaal. So wurde nach Kräften gegackert und gefummelt, gekungelt, getratscht und grimassiert, die Sänger wie auch der szenisch wie vokal sehr präsente Württembergische Kammerchor hatten merklich größtes Vergnügen an dem aufgekratzten Treiben. Mit hintersinnig ätzender Komik und Mut zum absurden Slapstick verkörperte Konarek den versoffenen Frosch: eine Paraderolle für den Wiener. Nestroy hätte seine Freude daran gehabt. (StZ)

Das Neujahrskonzert der Staatsoper mit Werken von Kurt Weill

02.
Jan.
2015

Ganz ohne Belehrung geht es nicht

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Nathalie Thiede

„Lost in the stars“ lautete der Titel des Neujahrskonzerts der Staatsoper, und zunächst stand das Konzert unter keinem guten Stern. Denn der vorgesehene Dirigent Simon Hewett musste seinen Auftritt noch in der Silvesternacht absagen, war er doch (zum dritten Mal) Vater geworden und wollte – durchaus verständlich – Frau und Kinder nicht alleine lassen. Verloren war man bei der Staatsoper dennoch nicht, war doch die Hauskorrepetitorin Kristina Sibenik bereit, für Hewett einzuspringen, dazu übernahm der Dramaturg Patrick Hahn, der auch das Programm konzipiert hatte, die ursprünglich ebenfalls Hewett zugedachte Rolle des Moderators.
Nun ist das Neujahrskonzert eine schöne Tradition, selbst wenn man sich an der Oper gerade mit dem Leichteren oft schwer tut. Liegt es an aufklärerischen Grundhaltung des Hauses, dass ein so champagnerleicht prickelnder, beschwingter Abend wie das Neujahrskonzert von 2011 mit dem Sängerehepaar Natalie Karl und Matthias Klink eine Ausnahme geblieben ist? Stattdessen erinnert man sich eher ungern an Konzerte wie das von 2013, als Lothar Zagrosek unter anderem Messiaen dirigierte. Und auch im letzten Jahr musste es zu Bernstein und Gershwin noch Beethovens Große Fuge sein.
In diesem Jahr nun war man einerseits erwartungsfroh, standen doch Stücke von Kurt Weill auf dem Programm, der während seiner Zeit in den USA am Broadway große Erfolge feierte und Lieder wie den „September Song“ komponierte, die zu Jazzklassikern avancierten. Andererseits konnte man ob des Umstands, dass zu dem Abend eine Einführungsveranstaltung (!) angesetzt wurde, wieder nachdenklich werden – ganz ohne Belehrung geht es in der Oper offenbar nicht. Doch auch wer diese Einführung verpasste, bekam von Patrick Hahn auf durchaus charmante Weise zwischen den Stücken einiges über Geschichte und Hintergrund der Stücke mitgeteilt – was vielleicht lehrreich war, aber verhinderte, dass der Abend eine eigene Dynamik entwickelte.
Stattdessen gab es gut vorgekaute Häppchen. Motti Kastón begann mit „Berlin im Licht“ und war spürbar unsicher, mit welcher Haltung er das nun singen sollte – opernhaft? Chansonmäßig? – zumal das Orchester zu Beginn rhythmisch noch reichlich hüftsteif agierte. Doch dann kamen mit Nathalie Thiede und Hanna Plass zwei Mitglieder vom benachbarten Schauspielensemble auf die Bühne, um das Eifersuchtsduett aus der (dort aktuell auf dem Programm stehenden) Brechtschen „Dreigroschenoper“ zu singen. Und man begann zu ahnen, wie dieser frühe Neujahrsabend hätte gelingen können.
Denn auch wenn die Schauspielerinnen stimmlich limitiert sind, so brachten sie doch etwas auf die Bühne, was das Publikum sofort spürte und mit befreitem Applaus quittierte: Theaterhaltung und körperliche Präsenz. Hinreißend Nathalie Thiedes „Lost in the stars“, schüchtern ans Mikrofon geschmiegt und mit einem Blick, der Wände durchdrang. Nun könnte man natürlich fragen, ob es im Ensemble der Staatsoper niemanden gibt, der Musicals singen kann. Wie auch immer: diese drei Schauspielladies (später kam noch Caroline Junghanns dazu) retteten diesen gut gemeinten Abend, der noch viel besser hätte sein können, wenn ein Regisseur das Song-Potpourri mittels eines dramaturgischen Fadens verbunden hätte. Das Largo für Orchester aus Weills 2. Sinfonie wäre dann ebenso verzichtbar gewesen wie die beiden von Ashley David Prewett prima gesungenen Walt Whitman-Songs in Kunstliedmanier. Zum guten Ende jedenfalls brachte das Sängerensemble das Publikum mit Weills „Youkali“und dem „Bilbao Song“ doch noch in die rechte Neujahrsfeierlaune. Einigermaßen zumindest. (StZ)

Das Freiburger Barockorchester mit Carolyn Sampson in Stuttgart

22.
Dez.
2014

Die Macht der schönen Frauen

SampsonPotpourri-Programme haben gemeinhin keinen guten Ruf, stehen sie doch unter Kulinarikverdacht: Häppchengenuss ohne tieferes Werkverständnis. Meist findet man sie bei sogenannten Operngalas in großen Sälen und mit renommierten Sängern, deren Gagen die Eintrittskarten teurer macht als die besten Plätze im Opernhaus. Auch wenn das Orchester bloß ein Muckenensemble aus Osteuropa ist.
Insofern war das Konzert des Freiburger Barockorchesters im Mozartsaal am Vorabend des vierten Advents in mancherlei Hinsicht bemerkenswert, denn auch das mit „Liebesduell“ überschriebene Programm war im Grunde ein Opernmedley – wenn auch eines der ambitionierteren Art. Es bestand aus Orchestersätzen, Arien und Duetten aus Opern von Georg Friedrich Händel, in denen es, wie bekanntlich häufig in der Oper, um Liebesverwicklungen geht. Wie er im Programmheft erläuterte (und vermutlich um nicht den Eindruck von Beliebigkeit aufkommen zu lassen) hatte der FBO-Dramaturg Henning Bey dabei versucht, die einzelnen Sätze in eine schlüssige Abfolge zu bringen.
Zunächst brachte das von Péter Barczi geleitete, gut disponierte Orchester mit dem erregten Prelude aus „Rinaldo“ erst mal das Gefühlsbarometer auf Höhe „Liebesglut“. Der Arie „Cara sposa“ aus Händels „Rinaldo“, in der der Protagonist das Verschwinden seiner Geliebten Almirena beklagt, folgte „Tutto può donna vezzosa“ aus „Giulio Cesare“: Eine schöne Frau, so lautet Cleopatras selbstbewusstes Statement, kann alles erreichen, wenn sie nur verliebt spricht. Wohl wahr – selbst wenn der Konnex zum Vorherigen ebenso dürftig war wie der zum folgenden Abschiedsduett aus „Rodelinda“. Aber so ist das halt mit Potpourris – und eigentlich spielte es auch keine Rolle, wurden die Sopranpartien doch an diesem Abend von einer der weltweit besten Sängerinnen für barockes Repertoire gesungen: Carolyn Sampson. Es war der Abend der aparten Engländerin, die in ihrem Genre längst ein Star ist, obwohl ihre Stimme gar nicht dem Alte-Musik-Klischee des vibratolosen, „geraden“ Singens entspricht. Betörend ist vor allem die ungeheure Vielfarbigkeit und Ausdrucksintensität ihrer ungemein schön timbrierten und perfekt geführten Stimme, dazu kommt Hampsons Präsenz, mit der sie das Gesungene in Einklang bringt mit körperlichem Ausdruck: hinreißend, wenn sie in der Arie der Cleopatra lakonisch die Schultern hochzieht, als bitte sie um Verzeihung für die Macht schöner Frauen. Und selbst wenn es jedes männliche Pendant an ihrer Seite schwer hätte, deckten Sampsons Qualitäten die Defizite des Countertenors Rupert Enticknap gerade in den Duetten erbarmungslos auf: seine dynamische Begrenztheit, die mechanisch abgesungenen Koloraturen, vor allem aber die die klischeehaften Gesten und seine gestalterische Indifferenz. Das erinnerte dann doch ein bisschen an Galakonzerte. (StZ)

Frank Armbruster

Richard Wagners „Tristan und Isolde“ an der Staatsoper Stuttgart

25.
Jul.
2014

Isolde am Spinnrad

Wie fühlt es sich wohl an, wenn das Gift langsam eindringt ins Nervensystem? Spürt man Schmerzen, bevor man die Besinnung verliert? In diesen Sekunden, nachdem Tristan und Isolde von dem (vermeintlich) tödlichen Balsam getrunken haben und der „Todestrotz der Liebesglut weicht“ (wie Wagner in der Regieanweisung schreibt), hält die Musik quasi den Atem an – bis ein F-Dur- Harfenakkord den Bann bricht und beide begreifen, dass sie weiter leben können – und lieben.
In der letzten Stuttgarter Neuinszenierung der aktuellen Spielzeit spielt diese Szene, wie der gesamte erste Akt, getreu nach Wagners Anweisung auf einem Schiff. Der Bühnenbildner Bert Neumann hat es gebaut, solide aus Holz, mit Mast und Ruder. Um das Schiff herum wogen die Wellen bis zum Horizont mittels gemalter, am Schnürboden aufgehängter Bühnenelemente. Das hat etwas Putziges in seinem naiven Illusionismus, ist aber auch eine starke Metapher für den schwankenden Grund, auf dem sich die Protagonisten von Anfang an bewegen: Wie ein Seismograf bildet der wankende Kahn die seelischen Erschütterungen der Figuren ab.
Die enge Beziehung zwischen Bühnenraum und dem Innenleben der Figuren zählt wie die akribisch genaue Personenführung zu den Stärken dieser Inszenierung. Neumanns Räume sind dabei nie statisch, sondern entwickeln sich mit der Handlung weiter. Gegen Ende des ersten Akts deuten sich im Hintergrund schon die Bilder des zweiten an, und solange der Fortgang der Szene offen ist, bleiben es auch die Bilder – erst im dritten Akt, wenn das Schicksal unabwendbar ist, bleibt die Bühne in ein erbarmungslos gleißendes Neonröhrenlicht getaucht. Bis dahin sind die Räume Assoziationsräume, die der Regie vielfältige szenische Möglichkeiten eröffnen. Denn anders als in den meisten Tristan-Inszenierungen bleibt bei Wieler und Morabito vieles bewusst in der Schwebe.
Auch die Frage, wie es eigentlich um die Liebe zwischen Tristan und Isolde steht. Zeitgenössische Opernregisseure begegnen ihr meist mit Skepsis. Heiner Müller hat in seiner Bayreuther „Tristan“-Inszenierung 1993 das Stück als Geschichte einer Entfremdung gelesen. Christoph Marthaler setzte 2005 an derselben Stelle an, und auch im Stuttgarter Tristan von Luk Perceval 2004 fanden Tristan und Isolde nicht wirklich zueinander.
Bei Wieler/Morabito nun ähnelt der zweite Akt einem Spiel, das sich um Liebe dreht. Der nächtliche Kunstwald mit den herabhängenden schwarzen Glitterbahnen bildet den Schutzraum, in dem Tristan und Isolde ihre Vergangenheit aufarbeiten und dabei in verschiedene Rollen schlüpfen. Aggressionen kommen dabei zum Vorschein, sexuelle Begierden – aber auch Regression in kindliche Verhaltensweisen: einmal wird Tristan zu einem verliebten Affen, der sich von Isolde streicheln lässt und dann den Kopf in ihre Schoß bettet. Am Ende küssen sie sich. Ob sie sich damit auch meinen, bleibt offen.
Offen bleibt auch die Bedeutung des Panopticons, das vor jedem Akt als transparentes Bild die Bühne verhüllt. Michel Foucault hatte das architektonische Prinzip mit dem mittig angeordneten Wachtturm, von dem aus alle Gefängniszellen eingesehen werden können, ohne dass der Wächter selber sichtbar wird, als Metapher für die moderne Gesellschaft westlich-liberaler Prägung interpretiert. Überwachungsdruck wird nicht mehr von außen ausgeübt, sondern entsteht durch die Offenlegung des Privaten selber. Ist entgrenzende, totale Liebe in einer quasi-öffentlichen Welt wie der unseren nicht mehr möglich? Darauf könnte der Wachturm deuten, der sich im zweiten Akt im Wald verbirgt und wie ein dräuender Schatten hinter der Zweisamkeit des Liebespaares lauert.
Nicht alles lässt sich hier restlos dechiffrieren, was aber gerade eine Stärke dieser Inszenierung ist. Denn umso stärker wirken ihre Bilder. Etwa das mit Isolde am Spinnrad am Beginn des zweiten Akts: wie bei Goethes Gretchen ist auch ihre Ruh dahin, bis sie den Geliebten trifft, dem sie am Ende den (Ariadne?-)Faden für die Reise in die ewige Nacht reicht. Oder das grandiose Schlussbild des dritten Aktes: Der Kahn ist hier gestrandet, ein Loch klafft in seinem Bauch. Fast alle sind tot, doch dann steht Tristan als Imagination Isoldes wieder auf und bewegt sich zu ihrem Abschiedsgesang in einem verklärten, bewegenden Tanz. Danach muss man sich erst mal wieder fangen.
Dem Rang der Inszenierung entspricht die musikalische Qualität in weiten Teilen.
Der Stuttgarter GMD Sylvain Cambreling dirigiert einen klanglich entschlackten und durchsichtigen Tristan, den Fokus eher auf harmonische Entfaltung und Gestaltung der Linien gerichtet als auf schiere Klangentladung. Das erste Vorspiel bleibt noch etwas statisch, mit einigen Asynchronitäten auf Seiten der Holzbläser, aber dann klinken sich Dirigent und Orchester in den Fluss der Musik ein. Streicher und Bläser wirken gleichberechtigt, was der Durchhörbarkeit der Partitur entgegenkommt. Und Cambreling dirigiert sängerfreundlich.
Das nutzt vor allem Christiane Iven, die, abgesehen von ihrer darstellerischen Präsenz, vor allem durch gestalterische Fantasie besticht. Iven singt ihr Debut als Isolde mit der Differenzierungskunst einer Liedsängerin: mit wunderbaren Pianoabtönungen und einer reichen Palette an Farben – geradezu durchglüht der bebende „Tristan!“-Ruf mit der absteigenden Septime im ersten Akt. Freilich kommt sie schon gegen Ende des zweiten Akts an ihre Grenzen, als ihre Stimme Glanz und Sitz verliert, die Intonation verrutscht – ganz reicht ihre Kondition für diese mörderische Partie wohl noch nicht. Im Gegensatz zum Tenor Eric Caves, der die kraftraubende Tristan-Partie, ebenfalls ein Rollendebut, bravourös bewältigt. Er gestaltet aus dem Lyrischen heraus, und was ihm an heldentenoraler Durchschlagskraft fehlt, gleicht er aus mit feiner Phrasierung. Bravourös auch Shigeo Ishino, der einen ungemein profunden wie textverständlichen Kurwenal singt. Attila Jun verleiht dem König Marke tragische Größe und auch die klangschön-expressive Brangäne von Katarina Karnéus entspricht dem hohen Niveau des Ensembles.
Am Ende Bravi und einige Buhs, vor allem für die Regie. Wagner schrieb über seinen Tristan, „vollständig gute“ Aufführungen müssten die Leute „verrückt“ machen, nur „mittelmäßige“ könnten ihn retten. So ein bisschen verrückt konnte man schon werden an diesem Abend. (StZ)

Aufführungen am 23. und 27. Juli, sieben weitere bis 21. Dezember.

Anna Netrebkos Arienabend im Baden-Badener Festspielhaus

11.
Jun.
2014

Packende Dramen

Es fängt gleich gut an in Baden-Baden. Man könnte natürlich fragen, warum man zum Auftakt die Sinfonia zu Bellinis Oper „Norma“ spielt, wenn es danach mit Verdi-Arien weitergeht, aber so rhythmisch trocken, schwungvoll und elegant wie die von Pavel Baleff geleitete Baden-Badener Philharmonie das hier musiziert, ist das Hören ein ziemliches Vergnügen.
Und dann kommt sie. Anna Netrebko. In einem schwarzen Kleid mit Schleppe  schreitet sie auf die Bühne, lächelt. Dann setzt das Orchester ein, „Tacea la notte placida“ aus Verdis „Il trovatore“. Die Kavatine beginnt ruhig, Leonore erzählt von dem nächtlichen Sänger, an den sie ihr Herz zu verlieren droht, und schon in den melodischen Aufschwüngen teilt sich die Erregung mit, die sich im zweiten Teil mit weiten Intervallsprüngen und Koloraturen Bahn bricht. Nicht nur diesen Umschlag gestaltet die Netrebko mitreißend.

Nun besteht die Herausforderung bei solchen Potpourri-Programmen für die Sänger darin, sich in dramatische, aus dem Opernkontext gelöste Situationen einzufühlen und diese zu fokussieren. Meist aber hört man bei solchen Anlässen nur schöne Melodien, abgesungen im Stil einer Operngala. Das war bis vor einigen Jahren auch bei Anna Netrebko gelegentlich so (wenngleich sie stimmlich schon immer viel zu bieten hatte). Doch das hat sich mittlerweile geändert.

Zu hören in der Arie der Macbeth „La luce langue“. Beim Orchestervorspiel steht Anna Netrebko steif da, die Hände an die Oberschenkel gepresst, den Blick starr zur Seite gewendet. Sie singt von der Wollust der Macht, von der Nacht, die die schuldige Hand der Mörderin verbirgt, und auch wenn ihr der Furor der Callas noch fehlen mag, deren Spitzentöne wie kalter Stahl ins Herz stießen, so gestaltet sie die kurze Arie doch wie ein packendes Drama, verkörpert für wenige, kostbare Minuten eine von Mordlust Besessene. Dass ihr das derart überzeugend gelingt, liegt auch an ihren gesteigerten vokalen Möglichkeiten. Zu den berühmten, golden schimmernden Tönen und der apart verhangenen mezza voce sind mittlerweile auch die Fähigkeit zu expressiver Schärfung und ein größeres Stimmvolumen gekommen, was ihr die Gestaltung dramatischer Partien erleichtert.

Einen gewichtigen Anteil am Gelingen kam an diesem Abend aber auch der Philharmonie Baden-Baden zu. Ihre Dirigent Pavel Baleff nahm nicht nur die Begleitung in den Arien ernst, sondern gestaltete auch die eingestreuten Intermezzi mit einer Verve und spannungsvollen Emphase, wie man sie auch in großen Opernhäusern eher selten erlebt. Abgesehen vom Eingangsstück war auch die Programmdramaturgie stimmig: das Preludio zu „I Masnadieri“ mit dem ausdrucksvollen Cellosolo bereitete das Duett Desdemona/Otello aus Verdis Oper „Otello“ atmosphärisch vor, in dem das Cello ebenfalls ein prominente Rolle spielt.

Ja, es gab auch zwei Duette an diesem Abend, und die waren wohl die einzige, leichte Enttäuschung – was nicht an Anna Netrebko lag. Doch der Tenor James Valenti war an diesem Abend kein adäquater Gegenpart zu Netrebko, weder stimmlich noch darstellerisch. In Duett „Già nella notte densa“ singt er von den Glücksgefühlen zu Desdemona, der er tief in die Augen blickt – allein, man spürt nichts davon. Zwar besitzt der Amerikaner ein angenehmes Timbre, doch wirkt er merkwürdig befangen – und das nicht nur wegen seines eindeutig zu engen Smokings. Seine Klangentfaltung in der Höhe ist bemüht, was auch seine rollenden Rs bei „Amorrrr“ nicht kompensieren können. Statt sich im körperlichen Ausdruck der Rolle anzupassen, bedient er sich tenoraler Standardgesten: Hände ineinanderlegen, ans Herz greifen. Dabei hätte es so schön werden können, gerade im letzten Stück des Abends, dem Duett „Oh, sarò la più bella…“ aus Puccinis Manon Lescaut, wo Anna Netrebkos Stimme herzzerreißend den Raum flutet. Das Publikum jedenfalls applaudiert stehend, womit es recht hat, und es gibt eine Zugabe: das Lied an den Mond aus Dvoráks Rusalka. Ach… (StZ)

Dieter Schnebels „Utopien“ zum Auftakt von „Der Sommer in Stuttgart“

05.
Jun.
2014

Menschliche Befindlichkeiten im Schnelldurchlauf

Zu lachen gibt es im Allgemeinen wenig in Konzerten mit zeitgenössischer Musik. Meist dominiert ein heiliger, gern von kryptischen Programmhefttexten unterfütterter Kunst-Ernst, und insofern steht Dieter Schnebels dadaistisch angehauchtes Musiktheaterstück „Utopien“, das nun im Rahmen der Reihe „Sommer in Stuttgart“ im Stuttgarter Theaterhaus aufgeführt wurde, auf sympathische Art außerhalb des aktuellen Avantgarde-Mainstreams. Nun gilt der 84-jährige Schnebel zusammen mit Mauricio Kagel und John Cage als ein Mitbegründer jener Ästhetik, die das theatrale Element der Klangerzeugung ins Zentrum gerückt hat. Auch „Utopien“, vor wenigen Wochen bei der Münchner Biennale uraufgeführt, steht in dieser Tradition. Das Publikum im gut gefüllten T2 sieht zu Beginn nur ein von weißen Tüchern verhängtes Karree, eine Bassklarinette steuert schnarrende Töne bei zum dumpfen Gegrummel der Pauke, eine Sopranistin singt die Worte „Glaube Liebe Hoffnung“: eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, auf den sich die im Verlauf des Stückes gelesenen und gesungenen Texte von René Descartes, Thomas Morus, Sebastian Brant und Joseph Conrad bringen lassen, die von Glaubenszweifeln (Descartes) und gesellschaftlichen Utopien (Morus) handeln. Auch bilden diese Texte so etwas wie das hochkulturelle Rückgrat des Stücks, das ansonsten in spielerischer, fast assoziativer Manier immer wieder neue, auf menschliche Grundbefindlichkeiten weisende Szenen und Situationen entwickelt. Den Mitgliedern der Neuen Vocalsolisten werden dabei blitzschnelle Rollen- und Perspektivwechsel zugemutet. Vom aufrührerischen Gegen-die-Wand-laufen bis zum entmutigten Kriechen ist es oft nur ein Wimpernschlag, insgesamt weist das Programmheft an die 40 Situationen aus, die die Sänger bravourös bewältigen. Wenn es dabei gar zu ernst und getragen zu werden droht, wird der hohe Ton auch schon mal durch einen flapsigen Spruch gebrochen – hier zeigt sich Schnebels Nähe zur ideologiekritischen Fluxusbewegung der 60er Jahre. Musikalisch scheint Schnebel in seinem Alterwerk nichts mehr am Hut zu haben mit überkomplexem Klanggetüftel. Längst bestellt ist sein musikalisches Feld, über das er nun fern stilistischer Scheuklappen souverän verfügt. Manche Patterns des fünfköpfigen Instrumentalensembles erinnern an Steve Reich, dazwischen sind auch mal Zitate (Wagner, Mahler, Beethoven) versteckt. Schnebels vokale Mittel schließen die der neuen Musik mit ein, ohne sie in den Vordergrund zu stellen – insgesamt klingt die Musik fast alterweise in ihrer bewussten Reduziertheit. Offen bleibt freilich, was das alles mit Utopien zu tun hat. Der Abend ist unterhaltsam, aber so wie die 75 Minuten im Fluge vergehen, bleibt von dem szenisch-musikalischen Schnelldurchlauf auch wenig hängen. Utopisches Musiktheater – gar selber eine Utopie?

(StZ)